Bundespatentgericht Tribunal fédéral des brevets Tribunale federale dei brevetti Tribunal federal da patentas Federal Patent Court O2017_023 Urteil vom 3. Mai 2019 Besetzung Instruktionsrichter Dr. iur. Christoph Gasser (Vorsitz), Richter Dr. sc. nat. ETH Tobias Bremi (Referent), Richter Dipl. Chem.-Ing. ETH Marco Zardi, Erste Gerichtsschreiberin lic. iur. Susanne Anderhalden Verfahrensbeteiligte Gilead Sciences Inc., 333 Lakeside Drive, US-94404 Foster City, CA, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. iur. Simon Holzer, Dr. iur. Kilian Schärli und Dr. iur. Michael Ritscher, Meyerlustenberger Lachenal AG, Schiffbaustrasse 2, Postfach 1765, 8031 Zürich, patentanwaltlich beraten durch Dr. Andreas Schöllhorn, Latscha Schöllhorn Partner AG, Austrasse 24, 4051 Basel, Klägerin gegen Mepha Pharma AG, Kirschgartenstr. 14, 4051 Basel, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Andrea Mondini, TIMES Attorneys, Falkenstrasse 27, 8024 Zürich, patentanwaltlich beraten durch Dr. Andreas Welch, Hepp Wenger Ryffel AG, Friedtalweg 5, 9500 Wil, Beklagte Gegenstand Verletzung des schweizerischen ESZ C00915894/01 Tenofovir Disoproxilfumarat + Emtricitabin O2017_023 Das Bundespatentgericht zieht in Erwägung: Prozessgeschichte 1. Mit Klage vom 4. Dezember 2017, in Prosequierung des zu ihren Gunsten entschiedenen Massnahmeverfahrens S2017_006 vom 12. Oktober 2017, stellte die Klägerin folgende Rechtsbegehren: «1.a. Der Beklagten sei unter Androhung einer Ordnungsbusse von CHF 1‘000.00 pro Tag gemäss Art. 343 Abs. 1 lit. b ZPO, mindestens aber CHF 5‘000.00 gemäss Art. 343 Abs. 1 lt. b ZPO, sowie der Bestrafung ihrer Organe mit Busse nach Art. 292 StGB zu verbieten, in der Schweiz pharmazeutische Produkte, die Tenofovir Disoproxil in Form eines Phosphatsalzes und Emtricitabin enthalten, namentlich Emtricitabin-Tenofovir Mepha 200mg/245mg, Lactab (Swissmedic Marktzulassungs-Nr. 66181) und/oder Efavirenz-Emtricitabin-Tenofovir-Mepha 600mg, 200mg, 245mg, Lactab (Swissmedic Marktzulassungs-Nr. 66217), während der Schutzdauer des ESZ C00915894/01 selber oder durch Dritte einzuführen (bzw. einführen zu lassen), auszuführen, zu lagern, herzustellen, anzubieten, zu verkaufen oder auf andere Weise in Verkehr zu bringen und/oder für die erwähnten Zwecke zu besitzen. 1.b Als Ausnahme vom Verbot gemäss vorstehendem Rechtsbegehren Nr. 1.a sei der Beklagten zu gestatten, Produkte gemäss Rechtsbegehren Nr. 1.a, die sich nachweislich bereits in unmittelbarem oder mittelbarem Besitz der Beklagten in der Schweiz befanden, bevor diese das Verbot vom 30. August 2017 im Verfahren S2017_006 zugestellt erhalten hat, frühestens nach Ablauf von 40 Tagen nach Rechtskraft dieses Urteils und frühestens 40 Tage nach Vorlage der entsprechenden Einfuhrdokumente und Einreichung der Angaben gemäss untenstehendem Rechtsbegehren Nr. 2 in eines der am wenigsten entwickelten Länder gemäss der Liste der UNO im Zeitpunkt des Urteils auszuführen. 2. Die Beklagte sei unter Androhung einer Ordnungsbusse von mindestens CHF 5‘000.00 gemäss Art. 343 Abs. 1 lit. b ZPO sowie der Bestrafung ihrer Organe gemäss Art. 292 StGB zu verpflichten, innerhalb von 40 Kalendertagen nach Rechtskraft des Urteils Auskunft zu erteilen unter Angabe der folgenden Informationen: a. Die Namen und Adressen der Lieferanten der lnhaltsstoffe und/oder der Halbfabrikate für die Herstellung der pharmazeutischen Produkte gemäss Rechtsbegehren Nr. 1.a; Seite 2 O2017_023 b. Eventualiter zu a., die Namen und Adressen der Lieferanten der pharmazeutischen Produkte gemäss Rechtsbegehren Nr. 1.a; c. Die Namen und Adressen der gewerblichen Abnehmer der pharmazeutischen Produkte gemäss Rechtsbegehren Nr. 1.a: d. Die Mengen hergestellter, eingeführter, exponierter und/oder gelagerter pharmazeutischer Produkte gemäss Rechtsbegehren Nr. 1.a unter Angabe der Chargen-Nummern, Packungsgrössen, Anzahl Tabletten und Dosierungsstärken und unter Vorlage der Ein- bzw. Ausfuhrdokumente. 3. Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beklagten, inklusive einer Entschädigung für den beratend beigezogenen Patentanwalt und zuzüglich der im Summarverfahren S2017_006 geltend gemachten Parteikosten und Auslagen für den beigezogenen Patentanwalt sowie der Gerichtskosten des Verfahrens S2017_006 und der überwiesenen Sicherheitsleistung.» 2. Mit Eingabe vom 9. März 2018 erstattete die Beklagte die Klageantwort und stellte folgende Rechtsbegehren: «(1) Die Klage sei vollumfänglich abzuweisen. (2) Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin, inklusive einer Entschädigung für den beratend beigezogenen Patentanwalt und zuzüglich einer Entschädigung für die im Summarverfahren S2017_006 geltend gemachten Parteikosten sowie Auslagen für den beigezogenen Patentanwalt.» 3. Mit Schreiben vom 17. Mai 2018 wurden die Parteien darüber informiert, dass angesichts des vor dem Bundesgericht hängigen Verfahrens in der Nichtigkeitsklage O2017_001 keine Instruktionsverhandlung durchgeführt werde, sofern keine begründeten Einwände der Parteien bis am 1. Juni 2018 eingingen. Mit Eingaben vom 29. Mai 2018 und 31. Mai 2018 teilten die Parteien dem Gericht mit, dass sie mit dem vorgeschlagenen Vorgehen einverstanden seien. 4. Die Replik der Klägerin erfolgte mit Eingabe vom 20. August 2018 ohne Änderung der Rechtsbegehren. Seite 3 O2017_023 5. Die Duplik der Beklagten datiert vom 19. September 2018. 6. Am 25. September 2018 erfolgte eine weitere Eingabe der Beklagten mit einem Parallelurteil des High Court of Justice zur Frage des Rechtsbestandes des parallelen ergänzenden Schutzzertifikats in Grossbritannien, am 3. Oktober 2018 erfolgte die Stellungnahme der Klägerin zur Duplik, und am 11. Oktober 2018 erfolgte eine Stellungnahme der Beklagten dazu. 7. Am 24. Januar 2019 erstattete Richter Tobias Bremi ein Fachrichtervotum. 8. Die Stellungnahmen der Parteien zum Fachrichtervotum erfolgten am 21. Februar 2019 und am 22. Februar 2019. 9. Die Hauptverhandlung fand am 4. April 2019 statt. Prozessuales 10. Die Klägerin ist ein amerikanisches Unternehmen mit Sitz in den USA. Bei der Beklagten handelt es sich um eine Aktiengesellschaft mit Sitz in der Schweiz. Gemäss Art. 1 Abs. 2 IPRG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 60 Abs. 1 LugÜ sowie Art. 109 Abs. 2 IPRG und Art. 26 Abs. 1 lit. b PatGG ist die örtliche und sachliche Zuständigkeit des Bundespatentgerichts gegeben. Gestützt auf Art. 110 Abs. 1 IPRG ist schweizerisches Recht anwendbar. Materielles 11. Die Klägerin ist Inhaberin des ergänzenden Schutzzertifikats C00915894/01 (in der Folge «ESZ»), das sich auf das europäische Patent EP 0 915 894 B1 (in der Folge «Grundpatent») stützt. Mit Klage vom 28. August 2017 hatte die Beklagte Nichtigkeitsklage gegen das ESZ erhoben, diese Klage wurde abgewiesen. Mit Urteil vom 3. Oktober 2017 hat das Bundespatentgericht die Rechtsbeständigkeit des ESZ bestätigt (O2017_001). Nachdem die Beklagte dagegen Beschwerde beim Seite 4 O2017_023 Bundesgericht erhoben hatte, hat auch das Bundesgericht mit Urteil vom 11. Juni 2018 (4A_576/2017) die Rechtsbeständigkeit des vorliegenden ESZ bestätigt. Auf die von der Beklagten erhobene Einrede der Nichtigkeit ist demnach infolge Rechtskraft der Entscheidung zur Rechtsbeständigkeit nicht weiter einzugehen. Es ist von der Rechtsbeständigkeit des ESZ auszugehen. 12. Das Grundpatent beansprucht in Anspruch 2 folgenden Wirkstoff: 2. The compound of claim 1 having formula (1) wherein B is guanin-9-yl, adenin-9-yl, 2,6-diaminopurin-9-yl, 2-aminopurin-9-yl or their 1deaza, 3-deaza, or 8-aza analogs, or B is cytosin-1-yl; R is independently -H, C1-C12 alkyl, C5-C12 aryl, C2-C12 alkenyl, C2-C12 alkynyl, C7C12 alkenylaryl, C7-C12 alkynylaryl, or C6-C12 alkaryl, any one of which is unsubstituted or is substituted with 1 or 2 halo, cyano, azido, nitro or -OR3 in which R3 is C1-C12 alkyl, C2-C12 alkenyl, C2-C12 alkynyl or C5-C12 aryl; R1 is hydrogen, -CH3, -CH2OH, -CH2F, -CH=CH2, or -CH2N3, or R1 and R8 are joined to form -CH2-; R2 independently is hydrogen or C1-C6 alkyl; and R8 is hydrogen or -CHR2-O-C(O)-OR, or R8 is joined with R1 to form -CH2-; and the salts, hydrates, tautomers and solvates thereof. Tenofovir-Disoproxil, ein Nucleoside reverse transcriptase inhibitor (NRTIs) als Wirkstoff mit antiviraler Wirkung (vgl. Grundpatent Anspruch 26 und Seite 5 O2017_023 [0044], Retroviren und HIV ausdrücklich genannt), wird davon unstrittig erfasst, denn es hat die Struktur und erfüllt damit wörtlich Anspruch 2 für die Auswahl R = Isopropyl (Anspruch 15), R1 = -CH3 (Anspruch 4), R2 = -H (Anspruch 5), R8 = -CHR2-OC(O)-OR (Anspruch 2) und B = Adenin-9-yl (Anspruch 2). Auch das Fumarat-Salz und das Phosphat-Salz von Tenofovir-Disoproxil werden vom Wortlaut erfasst, werden doch Salze des Wirkstoffs in den Ansprüchen 1 und 2 ausdrücklich genannt, und diese beiden spezifischen Anionen werden in [0043] des Grundpatents ausdrücklich im Rahmen einer Liste von möglichen Systemen genannt. 13. Weiter beinhaltet das Grundpatent einen generischen, u.a. auf ein Kombinationspräparat gerichteten Anspruch 27: 27. A pharmaceutical composition comprising a compound according to any one of claims 1-25 together with a pharmaceutically acceptable carrier and optionally other therapeutic ingredients. Die weiteren Wirkstoffe werden im Grundpatent nur noch in [0047] erwähnt und dabei nicht weiter spezifiziert: [0047] While it is possible for the active ingredients to be administered as pure compounds it is preferable to present them as pharmaceutical formulations. The formulations of the present invention comprise at least one active ingredient, as above defined, together with one or more acceptable carriers and optionally other Seite 6 O2017_023 therapeutic ingredients. The carrier(s) must be "acceptable" in the sense of being compatible with the other ingredients of the formulation and not deleterious to the patient. Zudem findet man im Zusammenhang mit Aerosolformulierungen im Absatz 59 Folgendes: [0059] Formulations suitable for nasal or inhalational administration wherein the carrier is a solid include a powder having a particle size for example in the range 1 to 500 microns (including particle sizes in a range between 20 and 500 microns in increments of 5 microns such as 30 microns, 35 microns, etc.). Suitable formulations wherein the carrier is a liquid, for administration as for example a nasal spray or as nasal drops, include aqueous or oily solutions of the active ingredient. Formulations suitable for aerosol administration may be prepared according to conventional methods and may be delivered with other therapeutic agents. Inhalational therapy is readily administered by metered dose inhalers. Weitere Hinweise auf Co-Formulierungen finden sich in den Absätzen [0061]-[0064], aber ohne spezifischen Hinweis auf weitere therapeutische Wirkstoffe. 14. Emtricitabin ist ein anderer NRTI als Wirkstoff mit antiviraler Wirkung mit folgender Struktur: 15. Eine erste Marktzulassung für die Wirkstoffkombination Tenofovir-Disoproxilfumarat zusammen mit Emtricitabin hat die Klägerin für das Produkt Truvada® unter Nr. 57316 am 21. März 2006 erhalten. Seite 7 O2017_023 16. Das Grundpatent schützt unbestrittenermassen den Wirkstoff TenofovirDisoproxil an sich oder in Salzform, z.B. als Fumarat oder Phosphat. Durch die Anspruchsformulierung der Produktansprüche 1 und 2 des Grundpatents wird zudem unbestrittenermassen nicht ausgeschlossen, dass dieser Wirkstoff in Kombination mit einem anderen Wirkstoff formuliert wird. Weiter werden im Anspruch 27 des Grundpatents ausdrücklich Kombinationspräparate unter Schutz gestellt. Damit ist auch die Wirkstoffkombination Tenofovir-Disoproxilfumarat + Emtricitabin, die Gegenstand dieser Marktzulassung ist, unbestrittenermassen durch das Grundpatent geschützt, und zwar im Sinne einer Nachmachung, d.h. wortsinngemäss. Gleiches gilt unbestrittenermassen für andere Salze von Tenofovir-Disoproxil in Kombination mit Emtricitabin, insbesondere für die Wirkstoffkombination Tenofovir-Disoproxilphosphat + Emtricitabin, oder auch in Kombination mit dem weiteren Wirkstoff Efavirenz als Tenofovir-Disoproxilphosphat + Emtricitabin + Efavirenz. Auch diese werden unbestrittenermassen vom Wortlaut des Grundpatents wortsinngemäss erfasst. 17. Das Klageschutzrecht stützt sich auf die genannte Swissmedic-Genehmigung Nr. 57316 für das Produkt Truvada® vom 21. März 2006 und wurde für die folgende Wirkstoffzusammensetzung erteilt: «Tenofovir Disoproxilfumarat + Emtricitabin». 18. Die Beklagte verfügt ihrerseits unbestrittenermassen über die Marktzulassung Nr. 66181 für Emtricitabin-Tenofovir-Mepha 200mg/245mg, Lactab, als Generikum zum Originalpräparat Truvada® sowie über die Marktzulassung Nr. 66217 für Efavirenz-Emtricitabin-Tenofovir-Mepha 200mg/245mg, Lactab, als Generikum zum Originalpräparat Atripla® der Klägerin. Ferner ist unbestritten, dass sich das ESZ in Bezug auf den Wirkstoff Tenofovirdisoproxil, genau wie die Zulassung der Klägerin, spezifisch auf das Fumarat bezieht, während sich die Zulassungen der Beklagten und die darunter vertriebenen Produkte auf Tenofovir-Disoproxilphosphat in Kombination mit weiteren Wirkstoffen beziehen respektive diesen Wirkstoff enthalten. Das Tenofovirdisoproxil des ESZ sowie der Erstzulassungen der Klägerin einerseits (Fumarat) und der Zweitzulassungen der Beklagten andererseits Seite 8 O2017_023 (Phosphat) liegen also in einer anderen Salzform vor, die Salzformen sind somit nicht identisch. 19. Schutzgegenstand und Wirkungen des ergänzenden Schutzzertifikats werden in Art. 140d PatG wie folgt definiert: «(1) Das Zertifikat schützt, in den Grenzen des sachlichen Geltungsbereichs des Patents, alle Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des Zertifikats genehmigt werden. (2) Es gewährt die gleichen Rechte wie das Patent und unterliegt den gleichen Beschränkungen.» Die Regelung einer Schutzdauerverlängerung für zulassungspflichtige Wirkstoffe über ergänzende Schutzzertifikate und damit auch Art. 140d PatG wurde im Rahmen der Revision von 1995 in das Gesetz eingefügt. Zum durch ergänzende Schutzzertifikate verliehenen Schutz führt die Botschaft einleitend Folgendes aus (BBl 1993 III 711): «Die Form eines eigenständigen Schutztitels statt einer blossen Verlängerung der Patentlaufzeit wurde gewählt, weil einerseits die Verlängerung nicht bloss an das Bestehen eines Patents, sondern auch an die Genehmigung des Inverkehrbringens anknüpft und weil andererseits die zusätzliche Schutzdauer nicht für den ganzen sachlichen Geltungsbereich des Patents, sondern nur in Bezug auf die genehmigten Anwendungen gewährt wird. (…) Hingegen gewährt das einmal erteilte Zertifikat auch Schutz für andere Verwendungen als die erstmals genehmigte, sofern sie ihrerseits bis zu seinem Ablauf genehmigt werden.» Weiter heisst es bei der Kommentierung der Einzelbestimmungen zu Art. 140d PatG in der Botschaft wie folgt (BBl 1993 III 730): «Absatz 1: Der durch das Zertifikat gewährte Schutz ist in zweierlei Hinsicht begrenzt: Erstens kann der Schutzgegenstand nicht weiter gehen als derjenige des Patents. Schützt also das Patent beispielsweise den Wirkstoff A und wird als Erzeugnis eine Zusammensetzung des Wirkstoffs A mit Wirkstoff B zugelassen, so erstreckt sich der Zertifikatsschutz nur auf den Wirkstoff A. Zweitens umfasst der Schutzgegenstand nicht den gesamten Gegenstand des Patents, sondern bezieht sich nur auf die zugelassenen Verwendungen. Wenn daher das Patent eine Gesamtheit von Erzeugnissen mit gleicher Formel umfasst, schützt das Zertifikat nur das weiterentwickelte und genehmigte Erzeugnis und nicht alle durch das Patent erfassten Erzeugnisse. Dagegen beschränkt sich der Schutzgegenstand des Zertifikats nicht auf die Verwendung, für welche das Erzeugnis, d. h. der Wirkstoff, Seite 9 O2017_023 erstmals zugelassen wurde. Vielmehr fallen auch alle Verwendungen darunter, die später bis zum Ablauf der Schutzdauer des Zertifikats genehmigt wurden. Auch hier gilt aber die Beschränkung des Schutzes durch den sachlichen Geltungsbereich des Patents. Bei Patenten für das Erzeugnis als solches ist diese Beschränkung unerheblich, da in diesem Falle verschiedene Verwendungen geschützt sind. Bei einem Patent für eine Verwendung fallen hingegen diejenigen Verwendungen ausser Betracht, die durch das Patent nicht gedeckt sind. Absatz 2: In dem von Absatz 1 definierten Umfang werden die Wirkungen des Zertifikats denjenigen des Patents (Art. 8 PatG) gleichgestellt. Damit ist auch gesagt, dass ein Zertifikat, das aufgrund eines Patents zur Herstellung eines Erzeugnisses erteilt wurde, nicht nur dieses Verfahren, sondern auch das nach diesem Verfahren hergestellte Erzeugnis schützt (Art. 8 Abs. 3 PatG). Im Übrigen unterliegen die vom Zertifikat verliehenen Rechte den gleichen Beschränkungen wie die Patentrechte (private Benützung oder Benützung zu Versuchszwecken, Zwangslizenzen usw.).» Die parallelen Regelungen in der ursprünglichen EWG-Verordnung 1768/92 vom 18. Juni 1992 und in der diesbezüglich nicht anders lautenden aktuellen EU-Verordnung 469/2009 in den Artikeln 4 und 5, auf die in der Botschaft Bezug genommen wird, lauten wie folgt: Seite 10 O2017_023 «Artikel 4, Schutzgegenstand In den Grenzen des durch das Grundpatent gewährten Schutzes erstreckt sich der durch das Zertifikat gewährte Schutz allein auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, und zwar auf diejenigen Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des Zertifikats genehmigt wurden. Artikel 5, Wirkungen des Zertifikats Vorbehaltlich des Artikels 4 gewährt das Zertifikat dieselben Rechte wie das Grundpatent und unterliegt denselben Beschränkungen und Verpflichtungen.» In den Erwägungen heisst es in den europäischen Regelungen wie folgt: «In einem so komplexen und empfindlichen Bereich wie dem pharmazeutischen Sektor sollten jedoch alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit berücksichtigt werden. Deshalb kann das Zertifikat nicht für mehr als fünf Jahre erteilt werden. Der von ihm gewährte Schutz sollte im Übrigen streng auf das Erzeugnis beschränkt sein, für das die Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel erteilt wurde.» Gemäss Bundesgericht ist das ergänzende Schutzzertifikat ein eigenständiges Ausschliesslichkeitsrecht, das im Gegensatz zum Patent nicht eine technische Lehre schützt, sondern ein Erzeugnis.1 Der Schutz, den das ergänzende Schutzzertifikat vermittelt, ist gemäss Art. 140d PatG zwar grundsätzlich derselbe wie der Patentschutz, er ist jedoch zusätzlich beschränkt auf die vor Ablauf des Zertifikats genehmigten Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel und auf das patentgeschützte Erzeugnis in den Grenzen des sachlichen Geltungsbereichs des Patents.2 20. Das ergänzende Schutzzertifikat schützt mithin, in den Grenzen des Grundpatents, das Erzeugnis nach der ersten Genehmigung sowie weitere Genehmigungen bis zum Ablauf des ergänzenden Schutzzertifikats in dessen Verwendungen als Arzneimittel. Handelt es sich beim Erzeugnis um eine Wirkstoffzusammensetzung aus z.B. wenigstens zwei Wirkstoffen, so ist als Erzeugnis die Kombination aus mehreren Stoffen, die alle eine medizinische Wirkung auf den Organismus haben, zu betrachten. 1 2 BGer 4A_576/2017, Urteil vom 11. Juni 2018, E. 2.1.1. BGer 4A_52/2008, Urteil vom 29. April 2008, E. 2.1. Seite 11 O2017_023 21. Damit auf einen Eingriff in den Schutzbereich eines ergänzenden Schutzzertifikats erkannt werden kann, sind somit folgende Bedingungen kumulativ zu erfüllen:3 1. Die Verwendung des angegriffenen Produkts stellt eine Verwendung des im ergänzenden Schutzzertifikat geschützten Erzeugnisses dar. Zu prüfen ist also, ob das angegriffene Produkt unter den Erzeugnisbegriff des ergänzenden Schutzzertifikats fällt (Art. 140d Abs. 1 PatG: «Das Zertifikat schützt, …, alle Verwendungen des Erzeugnisses, …»). 2. Das angegriffene Produkt ist ein Arzneimittel, das vor Ablauf des ergänzenden Schutzzertifikats genehmigt wurde (Art. 140d Abs. 1 PatG: «Das Zertifikat schützt, …, Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des Zertifikats genehmigt wurden»). 3. Das angegriffene Produkt muss im Schutzbereich des Grundpatents liegen (Art. 140d Abs 1 PatG: «Das Zertifikat schützt, in den Grenzen des sachlichen Geltungsbereichs des Patents, …», Art. 140d Abs 2 PatG: «Es gewährt die gleichen Rechte wie das Patent und unterliegt den gleichen Beschränkungen. »). 22. Vorliegend unbestritten sind die Bedingungen 2. und 3.: 2. Emtricitabin-Tenofovir-Mepha (Zulassung Nr. 66181) respektive Efavirenz Emtricitabin-Tenofovir-Mepha (Zulassung Nr. 66217) sind Arzneimittel, die vor Ablauf des ESZ genehmigt wurden; 3. Dass die angegriffenen Produkte Emtricitabin-Tenofovir-Mepha (Zulassung Nr. 66181) respektive Efavirenz-Emtricitabin-Tenofovir-Mepha (Zulassung Nr. 66217) im Schutzbereich des Grundpatents EP 0 915 894 B1 liegen, bestreitet die Beklagte nicht. Strittig ist mithin nur die erste Bedingung, ob das angegriffene Produkt unter den Erzeugnisbegriff des ESZ fällt. Oder unter Verwendung der Terminologie der Beklagten ausgedrückt: Die angegriffenen Ausführungsformen der Beklagten liegen nicht im Wortlaut des ESZ (keine Nachmachung); ein 3 Vgl. auch S2017_006 vom 12. Oktober 2017 Seite 12 O2017_023 ESZ hat keinen Schutzbereich, und selbst wenn, lägen die angegriffenen Ausführungsformen der Beklagten auch nicht im Äquivalenzbereich. 23. Das Gesetz definiert Erzeugnisse (vgl. Art. 140a Abs. 1 PatG) als «Wirkstoffe oder Wirkstoffzusammensetzungen». Der Begriff des Erzeugnisses wird im Zusammenhang mit Schutzzertifikaten bei den Erteilungsvoraussetzungen (Art. 140b und 140c PatG) sowie bei der Festlegung des Schutzgegenstandes und der Wirkungen (Art. 140d PatG) gleichermassen verwendet. Die Botschaft von 1993 zu einer Änderung des PatGG4 führt zu Art. 140a PatG aus: «Dieser Absatz legt den Kreis der Erzeugnisse fest, die für die Erteilung eines Zertifikats in Frage kommen. Dabei handelt es sich, im Einklang mit der EG-Verordnung über die ergänzenden Schutzzertifikate (EG-Verordnung), nicht um das (Human- oder Tier-) Arzneimittel, so wie es als pharmazeutische Spezialität genehmigt wird, sondern um den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung, welche(r) in einem solchen Arzneimittel Anwendung findet.» Der Begriff des Erzeugnisses ist dabei im Kontext der gesamten Regelung zum ergänzenden Schutzzertifikat zu verstehen. Nach Art. 140a Abs. 1bis ist «ein Wirkstoff ein zur Zusammensetzung eines Arzneimittels gehörender Stoff chemischen oder biologischen Ursprungs, der eine medizinische Wirkung auf den Organismus hat. Eine Wirkstoffzusammensetzung ist eine Kombination aus mehreren Stoffen, die alle eine medizinische Wirkung auf den Organismus haben». Letztere Präzisierung von Art. 140a Abs. 1bis wurde mit der Revision des Heilmittelgesetzes per 1. Januar 2019 eingeführt. Erläuternd führt die Botschaft dazu aus (BBl 2013 115): «Die vorliegende Gesetzesrevision wird zum Anlass genommen, in Artikel 140a Absatz 1bis PatG für den Bereich der Arzneimittel die Begriffe des Wirkstoffs beziehungsweise der Wirkstoffzusammensetzung in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, Rs. C-431/04, Massachusetts Institute of Technology) zu präzisieren. Demnach sind Stoffe, die zur Zusammensetzung eines Arzneimittels gehören, aber keine medizinische Wirkung auf den menschlichen oder tierischen Organismus haben, im Begriff «Wirkstoff» nicht eingeschlossen. Der Begriff der «Wirkstoffzusammensetzung» eines Arzneimittels 4 BBl 1993 III 706, S. 729. Seite 13 O2017_023 umfasst demzufolge auch keine Kombination aus zwei Stoffen, von denen nur einer eine medizinische Wirkung auf den Organismus hat.» Was die Erteilungsvoraussetzungen angeht, wird im Zusammenhang mit dem Erzeugnis in den Richtlinien für die Sachprüfung des IGE ausgeführt:5 «Das Erzeugnis ist definiert als ein Wirkstoff oder eine Wirkstoffzusammensetzung (Art. 140a Abs. 2 PatG). Unter Erzeugnis ist nicht die pharmazeutische Spezialität, so wie sie zugelassen worden ist, zu verstehen, sondern der Wirkstoff (bzw. die Wirkstoffzusammensetzung), der in einem solchen Arzneimittel Anwendung findet (s. Botschaft vom 18. August 1993, BBl III 706). Damit keine Unklarheiten betreffend das Erzeugnis bestehen, muss die Bezeichnung auf dem Zertifikatsantrag eindeutig sein. Sie darf nur die Bezeichnung des Wirkstoffs (bzw. der Wirkstoffzusammensetzung) gemäss der behördlichen Zulassungsbescheinigung umfassen. Nicht angenommen werden andere Bezeichnungen und Markennamen, da letztere für eine pharmazeutische Spezialität und nicht für den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung stehen. Analog ebenfalls nicht zulässig sind Bezeichnungen des Arzneimittels, wie «Nasale Verabreichungsform des Wirkstoffs A».» Zu Salzformen und Estern legen die Richtlinien des IGE Folgendes dar:6 «Liegen für einen Wirkstoff mehrere Zulassungen für jeweils unterschiedliche Salzformen oder Ester vor, so werden diese grundsätzlich als ein und dieselbe chemische Substanz respektive als ein und dasselbe Erzeugnis betrachtet. Diese Salze bzw. Ester dienen der Handhabung bei der Herstellung, Verarbeitung oder Verabreichung (z.B. Verbesserung der Löslichkeit) oder Stabilisierung des Wirkstoffs. Ist beispielsweise eine Carbonsäure je separat als freie Säure, als Natriumund Kaliumsalz zugelassen worden, so ist die früheste dieser drei Genehmigungen massgebend. Hat jedoch die Salzform (bzw. das Gegenion) oder die Estergruppe einen Einfluss auf die pharmakologische Wirkung im Körper, kann es sich um eine neue Erfindung handeln. Wird eine Salzform, ein Gegenion oder eine Estergruppe als solche in der Zulassungsbescheinigung mit einer Bezeichnung wie «neuer Wirkstoff» oder «neues Salz eines zugelassenen Wirkstoffs» vermerkt, gelten diese als neue Erzeugnisse. Die durch die spezielle Salz- oder Esterform veränderte Wirkung muss aus dem Grundpatent hervorgehen.» Richtlinien für die Sachprüfung der nationalen Patentanmeldungen, Fassung vom 1. Januar 2019, vgl. S. 107. 6 Richtlinien für die Sachprüfung der nationalen Patentanmeldungen, Fassung vom 1. Januar 2019, S. 107-108. 5 Seite 14 O2017_023 24. Ob im Rahmen des Erzeugnisbegriffs überhaupt ein über den reinen Wortlaut des Schutzzertifikats hinausgehender Schutzbereich vorhanden ist, wurde bisher in der Schweiz offenbar abgesehen vom dieser Klage zu Grunde liegenden Massnahmeverfahren S2017_006 noch nie entschieden. Die Entscheidung «Fluoxetin» des Bundesgerichts vom 27. Mai 19997 diskutiert zwar Äquivalenz im Zusammenhang mit dem Schutzbereich eines ergänzenden Schutzzertifikats, die Situation war dort aber anders als im vorliegenden Fall: Dort lautete das ergänzende Schutzzertifikat auf den Wirkstoff, das angegriffene Produkt entsprach diesem Wirkstoff des ergänzenden Schutzzertifikats, das Grundpatent betraf dagegen ein Herstellverfahren. Wenn entsprechend dort von Äquivalenz die Rede war, so war das nicht in Bezug auf das Erzeugnis, sondern in Bezug auf das oben genannte dritte Kriterium der durch das Grundpatent vorgegebenen Grenzen. Die Lehre scheint einem gewissen Schutzbereich, insbesondere für unwesentliche Abwandlungen des zugelassenen Erzeugnisses, nicht abgeneigt. So meint Bertschinger,8 dass zwar in den sachlichen Geltungsbereich des Grundpatents fallende Analoga nicht geschützt seien, unwesentliche Abwandlungen aber doch. Gasser geht etwas weiter und meint, dass grundsätzlich auch Äquivalente in den Schutzbereich des Zertifikats einzubeziehen seien. 9 Auch Schärli vertritt die Meinung, dass der Schutzbereich des ergänzenden Schutzzertifikats über die in der behördlichen Genehmigung genannte Wirkstoffvariante hinausgeht.10 Heinrich ist der Meinung, dass fraglich sei, ob trotz der Beschränkung auf das zugelassene Erzeugnis noch Raum für einen Schutzbereich bestehe.11 Im Einklang mit den Grundsätzen des Patentrechts scheine es allerdings angemessen, den Schutz auch auf unwesentliche Abwandlungen der zugelassenen Wirkstoffe auszudehnen, insbesondere beispielsweise auf ein anderes Salz. 25. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die schweizerische Regelung zu Schutzzertifikaten dem Recht der EU-Nachbarstaaten wenn BGer 4P.11/1999; sic! 1999, Seite 655. Handbücher für die Anwaltspraxis, Bd. VI, Schweizerisches und Europäisches Patentrecht, Helbing und Lichtenhahn, 2002 §10, Rn. 10.27. 9 Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, Helbing und Lichtenhahn, 2006, 8. Kapitel, S. 709. 10 Das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel, Diss., Schulthess, 2013, S. 123. 11 PatG/EPÜ, 3. Aufl., 2018, Stämpfli Verlag 2018, Art. 140d, Rn. 6. 7 8 Seite 15 O2017_023 möglich anzugleichen und bei der Auslegung der entsprechenden Gesetzesnormen im Rahmen der teleologischen und historischen Interpretation zu berücksichtigen.12 In diesem Sinne ist der Farmitalia-Entscheid des EuGH von Interesse, obwohl er, wie die Beklagte zu Recht hervorhebt, an sich nicht im Zusammenhang mit dem Schutzbereich eines ergänzenden Schutzzertifikats im Hinblick auf eine angegriffene Ausführungsform erging, sondern im Zusammenhang mit den Erteilungsvoraussetzungen für ein ergänzendes Schutzzertifikat. Dennoch ging es im Zusammenhang mit den Erteilungsvoraussetzungen eben gerade darum, ob das ergänzende Schutzzertifikat das Produkt nur in der spezifischen Form der Zulassung schützen könne:13 «By its first question, the national court asks, in substance, whether, on a proper construction of Article 3(b) of Regulation No 1768/92, the certificate can protect the product only in the specific form stated in the marketing authorization.» Im Prinzip wird in diesem Entscheid genau die hier vorliegende Situation vorgezeichnet, wenn Folgendes ausgeführt wird:14 «In that regard, all the interested parties who have submitted observations have maintained, in particular, that while the certificate could protect only the particular salt form of the active ingredient mentioned as the active constituent in the marketing authorization, whereas the basic patent protects the active ingredient as such as well as salts thereof, including the one which is the subject-matter of the marketing authorization, any competitor would be able, after the basic patent had expired, to apply for and, in some circumstances, obtain marketing authorization for a different salt of the same active ingredient, formerly protected by that patent. It would therefore be possible for medicinal products which were, in principle, therapeutically equivalent to that protected by the certificate to compete with the latter. The result would be to frustrate the purpose of Regulation No 1768/92, which is to ensure the holder of the basic patent of exclusivity on the market during a given period extending beyond the period of validity of the basic patent.» Mit anderen Worten wird festgehalten, dass es dem Grundgedanken der Verordnung zuwiderlaufen würde, wenn man einem ergänzenden Schutz- Vgl. BGE 4A_576/4017, E. 2.2.2 mit weiteren Hinweisen. EuGH C-392/97, «Farmitalia», E. 17. 14 EuGH C-392/97, «Farmitalia», E. 18. 12 13 Seite 16 O2017_023 zertifikat einen Schutzbereich zusprechen würde, der derartige unwesentliche Abwandlungen nicht mehr erfassen würde, und entsprechend wird am Ende wie folgt entschieden:15 «Consequently, the answer to the first question must be that, on a proper construction of Regulation No 1768/92 and, in particular, Article 3(b) thereof, where a product in the form referred to in the marketing authorization is protected by a basic patent in force, the certificate is capable of covering that product, as a medicinal product, in any of the forms enjoying the protection of the basic patent.» 26. Letzten Endes muss zur Erreichung des Ziels des ergänzenden Schutzzertifikats der Erzeugnisbegriff an der heilmittelrechtlichen Auffassung orientiert werden.16 Der Patentinhaber soll durch das ergänzende Schutzzertifikat einen Patentschutz für das Produkt verlängert erhalten, für welches er auch eine Marktzulassung erwirkt hat. Die Marktzulassung richtet sich auf ein ganz spezifisches Produkt, beispielsweise auch was die weiteren Formulierungsbestandteile und galenische Form angeht. Für die Belange des Erzeugnisbegriffs des ergänzenden Schutzzertifikats ist aber nur der Wirkstoff oder die Wirkstoffkombination davon zu berücksichtigen, der eine Wirkung auf den Organismus hat (vgl. Art. 140a Abs. 1bis und 2 PatG). Was den Wirkstoff oder die Wirkstoffkombination angeht, so erstreckt sich der Schutzbereich nicht nur auf jene Systeme, die exakt in den Zulassungsunterlagen respektive im ergänzenden Schutzzertifikat genannt werden, sondern auch auf jene Derivate, Salzformen, etc. davon, welche sich in ihren Eigenschaften nicht erheblich hinsichtlich Sicherheit und/oder Wirksamkeit vom System der Zulassung unterscheiden. Sprich, der Schutzbereich erstreckt sich auf jene Systeme, für welche eine vereinfachte Zulassung nach HMG erwirkt werden kann. 27. Gemäss Art. 12 HMG ist eine Zweitzulassung für ein Arzneimittel (Generikum oder Arzneimittel mit bekanntem Wirkstoff, BWS) möglich, das im We- EuGH C-392/97, «Farmitalia», E. 22. Auch so Bopp in «Die Schutzbereichsbestimmung bei ergänzenden Schutzzertifikaten», Festschrift 80 Jahre Patentgerichtsbarkeit Düsseldorf, Carl Heymanns, 2016, S. 72. 15 16 Seite 17 O2017_023 sentlichen gleich ist wie ein bereits zugelassenes Arzneimittel (Originalpräparat) und für die gleiche Anwendung vorgesehen ist. Das Gesuch kann sich dann in einem vereinfachten Zulassungsverfahren nach Art. 14 Abs. 1 lit. a HMG wesentlich auf die Ergebnisse der pharmakologischen, toxikologischen und klinischen Prüfungen eines Referenzpräparats mit vollständiger Dokumentation nach Art. 11 HMG abstützen. Gemäss der Wegleitung der Swissmedic für die Zulassung von Humanarzneimitteln mit bekanntem Wirkstoff werden unterschiedliche Salze, Ester, Ether, Isomere, Mischungen von Isomeren, Komplexe oder Derivate einer aktiven Substanz als dieselbe aktive Substanz angesehen, sofern die Gesuchstellerin belegen kann, dass die Erkenntnisse zur Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit mit ausreichender Wahrscheinlichkeit auf das neu angemeldete Präparat übertragbar sind.17 28. In diesem Sinne ist die Auslegung der Klägerin zutreffend, wenn sie den folgenden für das vorliegende Verfahren relevanten Erzeugnisbegriff vorschlägt: «Emtricitabin plus Tenofovirdisoproxilfumarat sowie alle Derivate (d.h. insbesondere alle Salzformen) davon, soweit diese die gleichen pharmakologischen Wirkungen aufweisen.» 29. Um überhaupt die Zweitzulassungen Nr. 66181 und Nr. 66217 gestützt auf die Zulassungen der Originalpräparate der Klägerin zu erhalten, reichte die Beklagte jeweils bei der Swissmedic eine technische Dokumentation ein. Diese technische Dokumentation belegt, dass, wenn anstelle von Tenofovirdisoproxil-Fumarat gemäss Originalpräparat Tenofovirdisoproxil-Phosphat eingesetzt wird, Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit quasi identisch sind, sprich die Präparate der Beklagten die gleichen pharmakologischen Wirkungen aufweisen wie die Referenzpräparate. Die entsprechenden Dokumentationen haben der Behörde genügt, um die Zweitzulassungen zu erteilen. Dazu passt auch, dass unbestrittenermassen im Körper des Menschen aus dem zugeführten Tenofovirdisoproxil-Salz als eigentlich therapeutisch wirksames Molekül Tenofovir gebildet wird. HD-Wegleitung Zulassung Humanarzneimittel mit bekanntem Wirkstoff, Ziff. 1.1.1. 17 Seite 18 O2017_023 30. So ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass diese Zweitzulassungen erteilt wurden, dass die beiden angegriffenen Ausführungsformen mit dem Phosphat-Salz des Wirkstoffs Tenofovirdisoproxil die gleichen pharmakologischen Wirkungen aufweisen wie die Fumarat-Salze des Wirkstoffs Tenofovirdisoproxil gemäss Erstzulassungen und gemäss ESZ. Etwas anderes wurde auch von der Beklagten nicht behauptet. 31. Grundsätzlich sind die rechtlichen Grundlagen für die arzneimittelrechtliche Zulassung und jene für die Frage des Eingriffs in das ergänzende Schutzzertifikat unterschiedlich. Wie oben erwähnt sind aber bei der Auslegung des Erzeugnisbegriffs eines ergänzenden Schutzzertifikats im Lichte des Gesetzeszwecks heilmittelrechtliche Überlegungen zu berücksichtigen. Der Beurteilung der patentrechtlichen Frage, ob ein gleiches Erzeugnis im Sinne von Art. 140d PatG vorliegt, liegt mithin die vorfrageweise technische Beurteilung der Frage der gleichen pharmakologischen Wirkung zu Grunde, die im HMG und den dieses umsetzendenden Verordnungen und Richtlinien analog vorgegeben werden. Diese technische Vorfrage für die Beurteilung, ob es sich um ein gleiches Erzeugnis im Sinne von Art. 140d PatG handelt, deckt sich damit mit der Beurteilung der Zulassungsbehörde, ob im Sinne von Art. 12 HMG im Wesentlichen der gleiche Wirkstoff vorliegt, wie bei der Erstzulassung und ob im Sinne der Wegleitung der Zulassungsbehörde Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit übertragbar sind.18 Wenn entsprechend die Dokumentation der Beklagten für die Zweitzulassung von der Zulassungsbehörde als genügender Beleg für die gleiche pharmakologische Wirkung beurteilt wurde, ist auch für das ESZ von einem gleichen Erzeugnis auszugehen. Anders könnte die Situation allenfalls zu beurteilen sein, wenn die abgewandelte Salzform eine unerwartete zusätzliche oder andere Wirkung zeigen würde. Das wurde hier aber nicht behauptet, und es ist auch fraglich, dass in einer solchen Situation überhaupt eine vereinfachte Zweitzulassung würde erhalten werden können, wäre dann doch auch die Wirksamkeit nicht im Sinne der Wegleitung unbedingt übertragbar. 18 Vgl. Bopp, a.a.o. S. 71 und 72. Seite 19 O2017_023 32. Vor der Zulassungsbehörde hat sich die Beklagte für die Erlangung der Zweitzulassung gerade darauf gestützt und zu diesem Zweck eine Dokumentation eingereicht, die belegt, dass die abgewandelte Form, das Tenofovirdisoproxil-Phosphat in den beiden Kombinationspräparaten der vereinfacht erhaltenen Zulassungen der Beklagten, die gleiche pharmakologische Wirkung aufweist wie das Tenofovirdisoproxil-Fumarat in den beiden Kombinationspräparaten der Zulassungen zum Originalpräparat der Klägerin. Es ging ihr mithin im Zulassungsverfahren ausdrücklich darum zu zeigen, dass die abgewandelte Form dieses Wirkstoffs unter Anwendung des arzneimittelrechtlich strengen Standards in keinerlei Hinsicht in relevanter Weise bezüglich Wirkung vom Originalpräparat abweicht. Es ging also der Beklagten im Zulassungsverfahren gerade darum zu zeigen, dass es sich um eine pharmakologisch gleichwirkende Alternative zum Originalpräparat handelt, was die Beklagte offenbar im dortigen Verfahren auch erfolgreich vertreten hat. Deshalb kann die Beklagte im vorliegenden Verletzungsverfahren auch nicht behaupten, die abgewandelte Form sei nicht wirkungsgleich, weil dies als widersprüchlich nicht geschützt würde.19 Die oben unter Ziff. 14 genannte erste Bedingung für den Eingriff in das ESZ («das angegriffene Produkt fällt unter den Erzeugnisbegriff des ESZ») ist damit erfüllt. 33. Zum gleichen Resultat kommt man, wenn man nicht wie oben dargelegt den Schutzbereich am Erzeugnisbegriff orientiert, sondern, wie von der Beklagten vorgetragen, den Schutzbereich nach den «üblichen patentrechtlichen Prinzipien» bestimmt. 34. Der Beklagten kann nicht gefolgt werden, wenn sie behauptet, in der Literatur werde einem ergänzenden Schutzzertifikat kein Schutzbereich zugestanden. 19 Vgl. BGE 4A_590/2016, Urteil vom 26. Januar 2017. Seite 20 O2017_023 Art. 140d Abs. 2 PatG hält ausdrücklich fest, dass das Zertifikat die gleichen Rechte wie das Patent verleiht, damit auch einen dem Patent entsprechenden Rechtsschutz und nicht nur Schutz vor Nachmachung, sondern auch Schutz vor Nachahmung im Sinne von Art. 66 lit. a PatG. Wie bereits oben dargelegt, geht auch die Lehre von einem gewissen Schutzbereich aus, insbesondere für Abwandlungen des zugelassenen Erzeugnisses. So meint Bertschinger, dass zwar in den sachlichen Geltungsbereich des Grundpatents fallende Analoga nicht geschützt seien, unwesentliche Abwandlungen aber doch.20 Gasser geht etwas weiter und meint, dass grundsätzlich auch Äquivalente in den Schutzbereich des Zertifikats einzubeziehen seien.21 Auch Schärli vertritt zwar schon für den nicht wie oben über den Erzeugnisbegriff definierten Schutzbereich die Meinung, dass ein ESZ als solches keinen eigenständig zu bestimmenden Schutzbereich aufweist.22 Er vertritt aber ausdrücklich in Anlehnung an die herrschende Lehre in der deutschen Literatur die Meinung, dass es einen Äquivalenzbereich gibt. Zur Bestimmung dieses Äquivalenzbereichs sei der Patentanspruch des Grundpatents so zu modifizieren, als ob darin allein das im ESZ bezeichnete Erzeugnis genannt wäre, und dann sei unter Berücksichtigung der Beschreibung des Grundpatents unter Verwendung der allgemeinen Grundsätze die Äquivalenz zu beurteilen. Heinrich ist der Meinung, dass fraglich sei, ob trotz der Beschränkung auf das zugelassene Erzeugnis noch Raum für einen Schutzbereich bestehe.23 Im Einklang mit den Grundsätzen des Patentrechts scheine es allerdings angemessen, den Schutz auch auf unwesentliche Abwandlungen der zugelassenen Wirkstoffe auszudehnen, insbesondere beispielsweise auf ein anderes Salz. Auch Heinrich beschränkt somit den Schutzbereich nicht auf den Wortlaut des ESZ. Es ist damit davon auszugehen, dass der Schutzbereich des ESZ nicht auf seinen reinen Wortlaut beschränkt ist und der Rechtsschutz auch Nachahmung umfasst. Handbücher für die Anwaltspraxis, Bd. VI, Schweizerisches und Europäisches Patentrecht, Helbing und Lichtenhahn, 2002 §10, Rn. 10.27. 21 Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, Helbing und Lichtenhahn, 2006, 8. Kapitel, S. 709. 22 Das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel, Diss., Schulthess, 2013, S. 129-139, v.a. Rn. 391. 23 Heinrich, PatG/EPÜ, 3. Aufl., 2018, Stämpfli Verlag 2018, Art. 140d, Rn. 6. 20 Seite 21 O2017_023 35. Auch wenn das ESZ ein Schutzrecht sui generis darstellt, so ist es doch in seinem Schutzbereich abhängig vom Grundpatent (vgl. Art. 140d PatG). Für die Bestimmung eines über den reinen Wortlaut hinaus erstreckenden Schutzbereichs ist zudem, wie die Beklagte richtig ausführt, ein Rückgriff auf die Beschreibung des Grundpatents unvermeidlich. 36. Die Beklagte stützt sich bei ihrer Argumentation zur Äquivalenz insbesondere auf die Sichtweise des BGH-Richters Klaus Grabinski im Kommentar von Benkard.24 Dieser wiederum stützt sich auf Hacker im Kommentar von Busse25 mit Verweis auf Brückner26 und Schell im Kommentar von Schulte.27 Im Kern zusammengefasst lässt sich der dort vorgetragene Ansatz wie folgt beschreiben:28 Der Schutzbereich eines Zertifikats wird durch den Inhalt der Patentansprüche des Grundpatents bestimmt, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung heranzuziehen sind und auch das Auslegungsprotokoll zu Art. 69 EPÜ zu beachten ist. Da der Zertifikatsschutz lediglich erzeugnisbezogen und zweckgebunden ist, ist der Patentanspruch des Grundpatents dabei fiktiv so zu fassen, als ob darin allein der im Zertifikat bezeichnete Wirkstoff genannt wäre und zwar für die zugelassene Verwendung des Wirkstoffs als Arzneimittel. Für die Auslegung des so gefassten Anspruchs sind die Beschreibung und die Zeichnungen des Grundpatents heranzuziehen. Um die Erfassung von Äquivalenten von Äquivalenten zu vermeiden, ist auch bei diesem Ansatz zusätzlich zu prüfen, ob die angegriffene Ausführungsform im Schutzbereich des Grundpatents liegt.29 Da dies vorliegend unbestritten ist, wird darauf in der Folge nicht weiter eingegangen. Grabinski in Benkard, Patentgesetz, 11. Auflage, 2015, CH Beck, §16a N 38. Hacker in Busse/Keukenschrijver, PatG, 8. Auflage, 2016, De Gruyter, §16a N 89 ff. 26 Brückner, Ergänzende Schutzzertifikate, 2. Auflage, 2014, Carl Heymanns, Art 4 N 14. 27 Schell in Schulte, Patentgesetz mit EPÜ, 10. Auflage, 2017, Carl Heymanns, §16a N 63 f. 28 Grabinski in Benkard, Patentgesetz, 11. Auflage, 2015, CH Beck, §16a N 38, übrigens isoliert aM Feldges/Kremer, FS von Meibom 57, 62 f. 29 Grabinski in Benkard, Patentgesetz, 11. Auflage, 2015, CH Beck, §16a N 38 in fine. 24 25 Seite 22 O2017_023 37. Folgt man diesem Ansatz, ist mithin für die Bestimmung des Schutzbereichs in einem ersten Schritt der unabhängige Anspruch des Grundpatents durch den Wortlaut des ESZ für die zugelassene Verwendung des Wirkstoffs als Arzneimittel zu ersetzen. Für die Bestimmung des Schutzbereichs ist dann die Beschreibung des Grundpatents heranzuziehen. 38. Die Beklagte meint, dass diese Vorgehensweise in der vorliegenden Situation scheitern müsse, weil das im ESZ genannte Erzeugnis im Grundpatent nicht genannt sei, mithin die konkrete Wirkstoffkombination von Tenofovirdisoproxil-Fumarat mit Emtricitabin gar nicht Gegenstand des Grundpatents sei und ein derartiger fiktiver Anspruch eine unzulässige Änderung oder Erweiterung wäre. Diesem Argument kann nicht gefolgt werden, denn dieser Ansatz beruht ja nicht darauf, dass ein effektiver Anspruch für ein Patent formuliert wird, der eine Stütze in den ursprünglich eingereichten Unterlagen finden muss, sondern darauf, dass ein Schutzbereich für das ESZ konstruiert werden soll. Eine unzulässige Änderung kann entsprechend gar nicht vorliegen. Eine unzulässige Erweiterung des Schutzbereichs kann weiter nicht vorliegen, da auf jeden Fall zusätzlich geprüft wird, ob die angegriffene Ausführungsform im Schutzbereich des Grundpatents liegt, was vorliegend unbestritten ist. Auch die Tatsache, dass gegebenenfalls ein derart fiktiv formulierter Anspruch Merkmale enthält, die in der Beschreibung des Grundpatents nicht ausdrücklich erwähnt werden, steht diesem Ansatz nicht grundsätzlich entgegen. Der Schutzbereich eines ESZ erstreckt sich auch auf angegriffene Ausführungsformen, die weitere als die ausdrücklich im ESZ genannten Wirkstoffe enthalten, auch wenn die weiteren Wirkstoffe im Grundpatent nicht ausdrücklich genannt sind.30 Zudem ist es nicht ungewöhnlich, dass der Schutzbereich von Ansprüchen von Patenten zu beurteilen ist, welche Vgl. Entscheidung «Fosinopril» BGE 124 III 375, die in Bezug auf die Frage, was vom Schutzbereich erfasst ist, durch die Entscheidung BGer 4A_576/2017 nicht überholt sein dürfte, sowie z.B. OLG Düsseldorf, «Ezetimib», 4b O 139/14 vom 5. März 2015. 30 Seite 23 O2017_023 Merkmale enthalten, die ausschliesslich in einem Anspruch, nicht aber in der Beschreibung vorkommen.31 39. In einem zweiten Schritt ist nun unter Verwendung der für Patente entwickelten Prinzipien der Eingriff in den Schutzbereich zu prüfen, und zwar auf Basis eines solchen fiktiven Anspruchs des Grundpatents, der dem Wortlaut des ESZ für die zugelassene Verwendung des Wirkstoffs als Arzneimittel entspricht. 40. Ob eine Verletzung durch äquivalente Mittel gegeben ist, bestimmt sich nach den folgenden, kumulativ zu bejahenden drei Fragen:32 1. Erfüllt das ersetzende Merkmal die objektiv gleiche Funktion wie das beanspruchte Merkmal? (Gleichwirkung)33 2. Ist bei ausgetauschten Merkmalen die Gleichwirkung für den Fachmann bei objektiver Betrachtung ausgehend von der Lehre des Patents offensichtlich? (Auffindbarkeit)34 3. Hätte der Fachmann bei Orientierung am Anspruchswortlaut im Lichte der Beschreibung die ersetzten Merkmale als gleichwertige Lösung in Betracht gezogen? (Gleichwertigkeit) Bei der dritten Frage ist gemäss kürzlicher Präzisierung des Bundesgerichts zu prüfen,35 ob der fachkundige Dritte bei objektiver Lektüre der Patentschrift zum Schluss gelangt, der Patentinhaber habe den Anspruch - Vgl. beispielsweise die Entscheidung «Urinalventil» O2014_002 vom 25. Januar 2016 und das dort diskutierte Merkmal «separat» sowie BGer 4A_131/2016 vom 3. Oktober 2016. 32 Leitsatz von S2011_006 vom 31. März 2013, bestätigt in BGE 142 III 772 vom 3. Oktober 2016, E. 6.2.1. 33 Weitere Erläuterungen zum Verständnis dieser ersten Frage der Gleichwirkung vgl. BGE 143 III 666 E. 5.3.3 – «Pemetrexed»; BPatGer, Urteil S2013_001 vom 21. März 2013, Leitsatz – «Drospirenon I»; Urteil O2014_002 vom 25. Januar 2016, E. 6.5.2.3 – «Urinalventil». 34 Leitsatz von BPatGer, Urteil O2014_002 vom 25. Januar 2016 – «Urinalventil», sowie weitere Erläuterungen zum Verständnis dieser zweiten Frage der Auffindbarkeit in E. 6.5.2.4, sowie BGE 142 III 772 vom 3. Oktober 2016, E. 6.2.1. 35 BGE 143 III 666 E. 5.5.1 – «Pemetrexed» sowie weitere Erläuterungen zum Verständnis dieser dritten Frage der Gleichwertigkeit in E. 5.5.2 – 5.5.8. 31 Seite 24 O2017_023 aus welchen Gründen auch immer - so eng formuliert, dass er den Schutz für eine gleichwirkende und auffindbare Ausführung nicht beanspruche. 41. Bei der Frage der Gleichwirkung ist zu prüfen, ob das ersetzende Merkmal die objektiv gleiche Funktion wie das beanspruchte Merkmal erfüllt. Dabei wirkt ein Merkmal grundsätzlich gleich, wenn damit das der Erfindung zugrunde liegende technische Problem mit gleicher Wirkung gelöst wird, was weder durch einen blossen Einzelvergleich noch in der Beurteilung des Leistungsergebnisses insgesamt beurteilt werden kann. Die abgewandelte Ausführungsform muss alle diejenigen Wirkungen erzielen, die nach dem Verständnis des Fachmanns mit den einzelnen technischen Merkmalen des Patentanspruchs für sich und in ihrem Zusammenwirken erzielt werden sollen.36 Dabei ist bei diesem Ansatz vom fiktiven Anspruch auszugehen, d.h. es ist zu prüfen, ob Tenofovir-Disoproxilfumarat + Emtricitabin als Arzneimittel (der fiktive Anspruch) gleich wirkt wie Tenofovir-Disoproxilphosphat + Emtricitabin (angegriffene Ausführungsform). Letzten Endes ist damit zu prüfen, ob es hinsichtlich Wirksamkeit einen Unterschied gibt, ob von Tenofovir-Disoproxil ein Fumarat eingesetzt wird oder ein Phosphat. Die Beklagte behauptet, Gleichwirkung könne nicht gegeben sein, da mit dem im Grundpatent beschriebenen Gegenstand, sprich mit dem Monopräparat, verglichen werden müsse. Das ist aber nicht richtig. Ausgangspunkt für die Beantwortung der Fragen zur Äquivalenz ist immer der Anspruchswortlaut37 und nicht die Beschreibung, die Beschreibung ist zur Auslegung des Anspruchswortlauts zu berücksichtigen. Folgt man diesem Ansatz, beinhaltet ein solcher fiktiver Anspruch nun aber das Kombinationspräparat und damit auch Emtricitabin, und die «gleiche Wirkung» ist mithin über einen Vergleich der Kombinationspräparate zu bestimmen. Die Beklagte behauptet nicht, dass es einen Unterschied in der Wirksamkeit gibt, ob man nun Tenofovir-Disoproxilfumarat + Emtricitabin oder Tenofovir-Disoproxilphosphat + Emtricitabin einsetzt, und es ist auch nicht erkennbar, dass es einen solchen Unterschied hinsichtlich physiologischer Wirkung geben könnte, denn unbestrittenermassen wird ja im Körper des 36 37 BGE 143 III 666 E. 5.3.3 – «Pemetrexed». BGE 143 III 666 E. 5.3.3 in fine – «Pemetrexed». Seite 25 O2017_023 Menschen aus dem zugeführten Tenofovirdisoproxil-Salz als eigentlich therapeutisch wirksames Molekül Tenofovir gebildet. Gleichwirkung ist entsprechend gegeben. 42. Bei der Frage der Auffindbarkeit ist zu prüfen, ob bei ausgetauschten Merkmalen die Gleichwirkung für den Fachmann bei objektiver Betrachtung ausgehend von der Lehre des Patents offensichtlich ist. Der Fachmann des betreffenden Gebietes muss aufgrund seines Allgemeinwissens durch die patentierte Erfindung zur Abwandlung angeregt werden.38 Auch bei der zweiten Frage ist bei diesem Ansatz vom fiktiven Anspruch auszugehen, d.h. es ist zu prüfen, ob die Gleichwirkung von TenofovirDisoproxilfumarat + Emtricitabin als Arzneimittel (der fiktive Anspruch) und Tenofovir-Disoproxilphosphat + Emtricitabin ausgehend von der Lehre des Patents offensichtlich ist. Die Beklagte behauptet auch hier, Auffindbarkeit könne nicht gegeben sein, da mit dem im Grundpatent beschriebenen Gegenstand, sprich mit dem Monopräparat, verglichen werden müsse. Das ist aber auch hier nicht richtig, Ausgangspunkt für die Beantwortung der Fragen zur Äquivalenz ist immer der Anspruchswortlaut und nicht die Beschreibung, die Beschreibung ist zur Auslegung des Anspruchswortlauts zu berücksichtigen. Folgt man diesem Ansatz, beinhaltet ein solcher fiktiver Anspruch nun aber eben das Kombinationspräparat und damit auch Emtricitabin, und die Auffindbarkeit ist mithin über einen Vergleich der Kombinationspräparate zu bestimmen. Mithin ist zu prüfen, ob es für den Fachmann bei objektiver Betrachtung offensichtlich ist, dass ein Kombinationspräparat, in welchem Tenofovir-Disoproxil als Fumarat-Salz vorliegt, und ein Kombinationspräparat, in welchem Tenofovir-Disoproxil als Phosphat-Salz vorliegt, gleiche Wirkung hat. Die Beklagte behauptet nicht, dass bei einer solchen Gegenüberstellung der Fachmann Probleme hätte, die Gleichwirkung ohne weiteres zu erkennen. Es gehört zum Allgemeinwissen des Fachmanns, dass derartige Wirkstoffe in Salzform, die bei Aufnahme im Körper im wässrigen Medium dissoziieren und dabei den eigentlichen Wirkstoff freisetzen, hier das Tenofovir, bei Verwendung der üblichen Anionen, und Fumarat und Phosphat sind übliche Anionen im pharmazeutischen Bereich, gleiche Wirkung zeigen, da 38 BGE 143 III 666 E. 5.4.1 – «Pemetrexed». Seite 26 O2017_023 eben die Wirkung allein durch das freigesetzte Kation bestimmt wird.39 Bestätigt wird dies für den Fachmann im Grundpatent durch die Aufzählung verschiedener Salze im Absatz [0043], in dem u.a. Phosphate neben Fumaraten genannt werden. Auffindbarkeit ist entsprechend ebenfalls gegeben. 43. Im vorliegenden Zusammenhang ist vorab bei der dritten Frage der Gleichwertigkeit ein spezieller Aspekt zu klären. Das Bundesgericht hat kürzlich unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des deutschen BGH festgehalten, dass, wenn in der Beschreibung des Patents (mindestens) zwei konkrete Ausführungsformen aufgezeigt werden, mit denen die erfindungsgemässe Wirkung erzielt werden kann, jedoch nur eine dieser Ausführungsformen im Patentanspruch Niederschlag fand, grundsätzlich keine Gleichwertigkeit gegeben sein kann.40 Es stellt sich die Frage, ob diese Aussage nur für den Schutzbereich von Patenten zutreffend ist oder auch bei diesem Ansatz der Konstruktion eines fiktiven Anspruchs zur Bestimmung des Schutzbereichs eines ESZ. Die im Bundesgerichtsentscheid in Bezug genommene Textstelle im Entscheid des BGH lautet wie folgt:41 «Für Fallgestaltungen, in denen dem Patentanspruch eine Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten zugrunde liegt, hat der Senat das Erfordernis der Orientierung am Patentanspruch dahin konkretisiert, dass die fachmännischen Überlegungen zu möglichen Abwandlungen gerade auch mit dieser Auswahlentscheidung in Einklang stehen müssen (BGH, Urteil vom 10. Mai 2011 - X ZR 16/09, BGHZ 189, 330 = GRUR 2011, 701 Rn. 35 Okklusionsvorrichtung). Deshalb ist eine Patentverletzung mit äquivalenten Mitteln in der Regel zu verneinen, wenn die Beschreibung mehrere Möglichkeiten offenbart, wie eine bestimmte technische Wirkung erzielt werden kann, jedoch nur eine dieser Möglichkeiten in den Patentanspruch aufgenommen worden ist (BGH, Urteil vom 10. Mai 2011 - X ZR 16/09, BGHZ 189, 330 = GRUR 2011, 701 Rn. 35 - Okklusionsvorrichtung; Urteil vom 13. September 2011 X ZR 69/10, GRUR 2012, 45 Rn. 44 - Diglycidverbindung).» Vgl. ganz analog auch BGE 143 III 666 E. 5.4.3 – «Pemetrexed». BGE 143 III 666 E. 5.5.4 – «Pemetrexed», mit Verweis auf Auswahlentscheidung des Patentinhabers im BGH-Urteil vom 14. Juni 2016, BGH X ZR 29/15 vom 14. Juni 2016 – «Pemetrexed», S. 924 E. 52 ff. 41 BGH X ZR 29/15 vom 14. Juni 2016 – «Pemetrexed», E. 52. 39 40 Seite 27 O2017_023 In der dort in Bezug genommenen Entscheidung «Okklusionsvorrichtung» wird weiter präzisiert:42 «Entgegen der Auffassung des englischen Berufungsgerichts, das gemeint hat, die "Schneidmesser-Fragen" enthielten nichts, was der dritten der in Improver v. Remington ([1990] FSR 181) von J. Hoffmann als Teil seiner Wiedergabe von Lord Diplocks Auslegungsansatz in Catnic gestellten Fragen entspreche (aaO Rn. 28 f.), führt somit die Prüfung der Orientierung am Patentanspruch zum Ausschluss einer Ausführungsform aus dem Schutzbereich des Patents, die zwar offenbart oder für den Fachmann jedenfalls auffindbar sein mag, von der der Leser der Patentschrift aber annehmen muss, dass sie - aus welchen Gründen auch immer - nicht unter Schutz gestellt werden sollte (vgl. BGH, a.a.O., 159 - Schneidmesser I).» Letzten Endes geht es also darum, dass gemäss diesen Entscheidungen eine konkrete Alternative, die in der Beschreibung des Patents erwähnt wird, aber nicht beansprucht wird, nicht vom Schutzumfang erfasst sein kann. Die Begründung dafür ist, dass der Patentinhaber im Rahmen des Prüfungsverfahrens in solchen Situationen eine Auswahl getroffen hat und über die Anspruchsfassung diese konkrete Alternative, die in der Beschreibung erwähnt wird, ausdrücklich ausgeschlossen hat. Auf derartige zwar beschriebene, aber nicht beanspruchte konkrete Alternativen soll sich der Schutzbereich nicht erstrecken. Diese Betrachtungen lassen sich nicht übertragen auf die Situation des fiktiven Anspruchs bei diesem Ansatz für die Bestimmung des Schutzbereichs eines ESZ. Ein solcher fiktiver Anspruch ist nicht Resultat einer Auswahlentscheidung in einem Prüfungsverfahren, sondern eine Konstruktion, die weit nach abgeschlossenem Prüfungsverfahren verwendet wird, um den Schutzbereich eines ESZ zu definieren. Eine eigentliche Auswahl in einem Prüfungsverfahren und damit quasi ein Fallenlassen einer solchen konkreten Alternative, die nur beschrieben, aber in diesem fiktiven Anspruch nicht beansprucht wird, kann nicht angenommen werden. Es handelt sich bei diesem Ansatz mit dem fiktiven Anspruch nicht um eine Auswahl in Bezug auf den Schutzbereich, sondern um eine Auswahl für die Zulassung eines Produktes, ohne derartige Konsequenzen für den Schutzbereich. 42 BGH X ZR 16/09 vom 10. Mai 2011 - «Okklusionsvorrichtung», E. 36. Seite 28 O2017_023 Würde man dies anders sehen, wäre zudem faktisch Äquivalenz für ESZs bei verschiedenen Salzformen, wenn nur eine spezifische davon für die Markzulassung verwendet und dann Eingang in die Formulierung des ESZ gefunden hat, auszuschliessen. Meist werden nämlich bei solchen Patenten die verschiedenen Salze, die physiologisch gleiche Wirkung erzeugen, standardmässig in langen Listen aufgeführt (vgl. z.B. hier im Grundpatent [0043]). Bekanntlich werden aus solchen Listen von offensichtlich in Bezug auf die physiologische Wirksamkeit gleichwertig möglichen Salzformen im Einzelfall für ein konkretes Produkt und dessen Marktzulassung solche ausgewählt, die beispielsweise bei der Herstellung des Wirkstoffs automatisch aufgrund der verwendeten Reaktionsbedingungen entstehen oder die sich gut mit den anderen Formulierungsbestandteilen vertragen. Es kann entsprechend in einer solchen Situation auch nicht im Sinne der Erwägungen des Bundesgerichts davon ausgegangen werden,43 dass «der fachkundige Dritte bei objektiver Lektüre der Patentschrift zum Schluss gelangt, der Patentinhaber habe den (hier fiktiven) Anspruch – aus welchen Gründen auch immer – so eng formuliert, dass er den Schutz für eine gleichwirkende und auffindbare Ausführung nicht beanspruche». Der Patentinhaber hat den Anspruch ja gar nicht in einem Prüfungsverfahren und zur Abgrenzung vom Stand der Technik in diese fiktive Fassung gebracht. Im Gegenteil wird der fachkundige Dritte bei objektiver Lektüre der Patentschrift und im Wissen darum, dass ein solcher fiktiver Anspruch für den Schutzbereich eines ESZ auszulegen ist, in einer solchen Situation gerade davon ausgehen, dass natürlich diese anderen Salzformen, weil sie in der Beschreibung genannt werden, nicht vom Schutzumfang ausgeschlossen sind. 44. Bei der Frage der Gleichwertigkeit ist nun konkret zu prüfen, ob der Fachmann bei Orientierung am Anspruchswortlaut im Lichte der Beschreibung die ersetzten Merkmale als gleichwertige Lösung in Betracht gezogen hätte. Es ist dabei zu prüfen, ob der fachkundige Dritte bei objektiver Lektüre der Patentschrift zum Schluss gelangt, der Patentinhaber habe den Anspruch – aus welchen Gründen auch immer – so eng formuliert, dass er den Schutz für eine gleichwirkende und auffindbare Ausführung nicht beanspruche. 43 BGE 143 III 666 E. 5.5.1 – «Pemetrexed». Seite 29 O2017_023 Es ist wiederum vom fiktiven Anspruch auszugehen, d.h. es ist zu prüfen, ob der Fachmann Tenofovir-Disoproxilphosphat + Emtricitabin als Ersatz für Tenofovir-Disoproxilfumarat + Emtricitabin wie im fiktiven Anspruch genannt als gleichwertige Lösung in Betracht gezogen hätte. Gemäss Bundesgericht bedarf es besonderer Gründe, weshalb der fachkundige Adressat annehmen muss und darf, der Patentschutz werde nicht beansprucht für Ausführungen, die er als gleichwirkend aufgrund seines allgemeinen Fachwissens in Kenntnis der Erfindung auffinden kann.44 Die fiktive Anspruchsfassung entspricht, bezogen auf den Offenbarungsgehalt des Grundpatents, was Tenofovir-Disoproxil angeht, einer einschränkenden Auswahl aus der erteilten Anspruchsfassung, die beliebige Derivate und Salze erfasst. Eine solche Einschränkung führt gemäss Bundesgericht nur dann zu einer Reduktion des Schutzbereichs, wenn die Anmelderin durch die Einschränkungen Einwänden Rechnung getragen hat, welche sich auf den Patentschutz für die hier umstrittene Ausführung der Beschwerdegegnerin beziehen, z.B. den Patentanspruch im Hinblick auf den freien Stand der Technik für die hier umstrittene Ausführung eingeschränkt hat.45 Diese Bedingung ist vorliegend nicht erfüllt, denn die Einschränkung geht auf diesen Ansatz des fiktiven Anspruchs zurück und erfolgte nicht in Reaktion auf Einwände bezogen auf den Patentschutz. Die Einschränkung erfolgte ursprünglich für die Auswahl eines bestimmten Produkts für die Marktzulassung und Vermarktung, und diese führte dann zur entsprechenden Formulierung des ESZ. Anhaltspunkte dafür, dass die Auswahl des Fumarats so verstanden werden muss, dass der ESZ Inhaber keinen Schutz für das Phosphat haben wollte, sind nicht erkennbar. 45. Aus den obigen Gründen kann auch das Prinzip, dass die angegriffene Ausführungsform als Alternative in der Beschreibung erwähnt wird, aber nicht beansprucht wird,46 für diesen Ansatz nicht Anwendung finden. 46. Selbst wenn man dieses Prinzip anwenden würde, würde es aber nicht zu einem Ausschluss aus dem Schutzbereich führen, denn die Beschreibung BGE 143 III 666 E. 5.5.3 – «Pemetrexed». BGE 143 III 666 E. 5.5.4 – «Pemetrexed». 46 BGE 143 III 666 E. 5.5.4, zweitletzter Absatz in fine – «Pemetrexed». 44 45 Seite 30 O2017_023 des Grundpatents beschreibt die Alternative zu diesem fiktiven Anspruchsgegenstand in Bezug auf den relevanten Wirkstoff, nämlich TenofovirDisoproxilphosphat, nicht in konkreter Form. In Form mehrerer MarkushFormeln werden generische Strukturen in der allgemeinen Beschreibung des Grundpatents in [0003]-[0043] erwähnt. In [0043] werden verschiedene Salzformen, unter anderem auch Phosphorsäure und damit das entsprechende Phosphat, und Fumarsäure und damit das entsprechende Fumarat, als mögliche Anionen für diese allgemeinen Strukturen offenbart. Es gibt damit keine konkret individualisierte Offenbarung der angegriffenen Ausführungsform Tenofovir-Disoproxilphosphat im Grundpatent, sondern nur die Offenbarung einer Gattung von chemischen Verbindungen. Eine solche Offenbarung einer Gattung von chemischen Verbindungen, die nicht mit der Offenbarung der davon umfassten Einzelverbindungen gleichgesetzt werden kann, kann nicht als Auswahlentscheidung zwischen verschiedenen konkreten Möglichkeiten, wovon nur eine in den Anspruch Eingang gefunden hat, betrachtet werden.47 47. Die Beklagte behauptet, Gleichwertigkeit könne nicht gegeben sein, da mit dem im Grundpatent beschriebenen Gegenstand, sprich mit dem Monopräparat, verglichen werden müsse. Das ist auch hier nicht richtig, Ausgangspunkt für die Beantwortung der Fragen zur Äquivalenz ist der Anspruchswortlaut und nicht die Beschreibung, die Beschreibung ist zur Auslegung des Anspruchswortlauts zu berücksichtigen. Folgt man diesem Ansatz, beinhaltet ein solcher fiktiver Anspruch das Kombinationspräparat und damit auch Emtricitabin, und die Gleichwertigkeit ist also über einen Vergleich der Kombinationspräparate zu bestimmen. Mithin ist zu prüfen, ob der Fachmann bei Orientierung am Anspruchswortlaut im Lichte der Beschreibung ein Kombinationspräparat, in welchem Tenofovir-Disoproxil als Phosphat-Salz vorliegt, als gleichwertige Lösung zu einem Kombinationspräparat, in welchem Tenofovir-Disoproxil als Fumarat-Salz vorliegt, in Betracht gezogen hätte. Die Beklagte behauptet nicht, dass bei einer solchen Gegenüberstellung der Fachmann bei Orientierung am Anspruchswortlaut im Lichte der Beschreibung die ersetzten Merkmale nicht als gleichwertige Lösung in Betracht gezogen hätte. Es gehört zum Allgemeinwissen des Fachmanns, dass derartige Wirkstoffe in Salzform, die bei Aufnahme im Körper im wässrigen Medium dissoziieren und dabei den eigentlichen Wirkstoff freisetzen, 47 BGH X ZR 29/15 vom 14. Juni 2016 - «Pemetrexed», E. 55-61. Seite 31 O2017_023 hier das Tenofovir, bei Verwendung der üblichen Anionen, und Fumarat und Phosphat sind übliche Anionen im pharmazeutischen Bereich, gleiche Wirkung zeigen, da eben die Wirkung allein durch das freigesetzte Kation bestimmt wird.48 Wie im ähnlich gelagerten Fall «Pemetrexed» beim Bundesgericht beschreibt hier das Grundpatent allgemein generische Strukturen, die Tenofovir-Disoproxil unabhängig vom Salz umfassen, und es ist deshalb kein vernünftiger Grund dafür ersichtlich ist, dass die Patentinhaberin einen derart engen Schutz beansprucht haben sollte, wie er sich aus dem Wortsinn ergibt.49 Gleichwertigkeit ist entsprechend ebenfalls gegeben. 48. Ein Eingriff in den Schutzbereich des ESZ ist damit auch dann gegeben, wenn man den Schutzbereich nicht am Erzeugnisbegriff orientiert, sondern, wie von der Beklagten vorgetragen, den Schutzbereich nach den «üblichen patentrechtlichen Prinzipien» bestimmt. Unterlassungsbegehren 49. Die Klägerin schränkt ihr Unterlassungsbegehren mit Antrag 1.b ein. Als Ausnahme vom Verbot soll es der Beklagten gestattet sein, Produkte gemäss Begehren 1.a, die sich nachweislich bereits in unmittelbarem oder mittelbarem Besitz der Beklagten in der Schweiz befanden, bevor diese das Verbot vom 30. August 2017 im Verfahren S2017_006 zugestellt erhalten hat, frühestens nach Ablauf von 40 Tagen nach Rechtskraft dieses Urteils und frühestens 40 Tage nach Vorlage der entsprechenden Einfuhrdokumente und Einreichung der Angaben gemäss Dispositivziffer 2 unten in eines der am wenigsten entwickelten Länder gemäss der Liste der UNO im Zeitpunkt des Urteils auszuführen. Dieser Einschränkung widersetzt sich die Beklagte erwartungsgemäss nicht, es ist nicht erkennbar, was gegen diese Einschränkung sprechen könnte. Damit ist dem Rechtsbegehren im eingeschränkten Umfang stattzugeben. 48 49 Vgl. ganz analog auch BGE 143 III 666 E. 5.4.3 – «Pemetrexed». BGE 143 III 666 E. 5.5.8 – «Pemetrexed». Seite 32 O2017_023 Auskunftsbegehren 50. Im Zusammenhang mit Rechtsbegehren 2 macht die Beklagte geltend, dass die Klägerin keinen finanziellen Wiedergutmachungsanspruch gestellt habe und somit die verlangten Informationen (anders als bei einer Stufenklage) nicht zur Bezifferung von finanziellen Wiedergutmachungsansprüchen benötige. Wie die Klägerin richtig festhält, handelt es sich beim Informationsanspruch der Klägerin in einem Patentverletzungsprozess, und damit analog in einem Verletzungsprozess um ein ESZ, um einen materiell-rechtlichen Anspruch (vgl. O2012_036 vom 13. Februar 2013 – «Reiseadapter»), der nicht davon abhängt, ob die Klägerin ihren finanziellen Anspruch in diesem Verfahren oder in einem späteren auf die finanzielle Entschädigung gerichteten separaten Verfahren richtet. Angesichts des oben dargelegten Eingriffs in den Schutzbereich des ESZ ist entsprechend auch dem auf Auskunft gerichteten Rechtsbegehren stattzugeben. Kosten- und Entschädigungsfolgen 51. Ausgangsgemäss wird die Beklagte kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgehend von einem unbestrittenen Streitwert von CHF 1 Mio., ist die Gerichtsgebühr auf CHF 60'000 festzusetzen (Art. 1 KR-PatGer) und mit dem Kostenvorschuss der Klägerin zu verrechnen (Art. 111 Abs. 1 ZPO). Die Klägerin hat für die Verhandlung den Beizug einer Dolmetscherin beantragt, die vom Gericht entsprechend aufgeboten wurde. Die daraus erwachsenen Kosten betragen CHF 2'967.80. Verfahrenssprache des vorliegenden Verfahrens ist Deutsch, und die Klägerin hat eine Simultanübersetzung ins Englische beantragt, die auch ausschliesslich von der Klägerin an der Hauptverhandlung beansprucht wurde. Diese Kosten wurden mithin Seite 33 O2017_023 durch die Klägerin allein verursacht, waren nicht notwendig und sind ihr deshalb unabhängig vom Ausgang aufzuerlegen (Art. 108 ZPO).50 Die Beklagte hat der Klägerin CHF 60’000 zu ersetzen (Art. 111 Abs. 2 ZPO). Die Entschädigung für die rechtsanwaltliche Vertretung ist auf CHF 60'000 festzusetzen (Art. 3-5 KR-PatGer). Für die patentanwaltliche Beratung macht die Klägerin eine Entschädigung von CHF 9'350 geltend. Dieser Betrag wurde nicht bestritten und ist angemessen. Demnach beträgt die Entschädigung für die patentanwaltliche Beratung CHF 9'350 (Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 lit. a KR-PatGer). Die Kosten des Massnahmeverfahrens S2017_006 sind ausgangsgemäss vollumfänglich der Beklagten aufzuerlegen. Zu erstatten ist aber nicht der im Massnahmeentscheid aufgeführte Betrag von CHF 39'382.40, dieser war für den Fall vorläufig verlegt worden, in dem die Klägerin die Prosequierung unterlassen hätte und der Betrag wäre nur für den Fall des Unterliegens der Klägerin im ordentlichen Verfahren zutreffend. Die Gerichtsgebühr des Massnahmeverfahrens betrug CHF 13‘000 und für die rechtsanwaltliche Vertretung sind CHF 11'000 geschuldet. Im Massnahmeverfahren hatte die Klägerin für ihre patentanwaltlichen Aufwendungen CHF 15‘575 geltend gemacht (S2017_006), dies blieb von der Beklagten unbestritten (S2017_006) und ist angemessen. Als Entschädigung für das Massnahmeverfahren schuldet die Beklagte der Klägerin somit insgesamt CHF 39‘575. Schliesslich ist die mit Entscheid vom 30. August 2017 angeordnete und mit Entscheid vom 12. Oktober 2017 aufrechterhaltene Sicherheitsleistung (vgl. S2017_006, Dispositivziffer 2) aufzuheben und die Sicherheitsleistung ist der Klägerin zurückzuerstatten. Vgl. Calame/Hess-Blumer/Stieger-Thouvenin, Art. 36 PatGG N 14; CPC-Bohnet Art. 130 N 7; Martin Kaufmann, DIKE-Komm ZPO, Art. 129 N 32; a.M. KUKO ZPOWeber Art. 129 N 7 sowie BSK ZPO-Gschwend Art. 129 N 8. 50 Seite 34 O2017_023 Das Bundespatentgericht erkennt: 1. Der Beklagten wird unter Androhung einer Ordnungsbusse von CHF 1‘000 pro Tag gemäss Art. 343 Abs. 1 lit. b ZPO, mindestens aber CHF 5‘000 gemäss Art. 343 Abs. 1 lt. b ZPO, sowie der Bestrafung ihrer Organe mit Busse nach Art. 292 StGB verboten, in der Schweiz pharmazeutische Produkte, die Tenofovir Disoproxil in Form eines Phosphatsalzes und Emtricitabin enthalten, namentlich EmtricitabinTenofovir Mepha 200mg/245mg, Lactab (Swissmedic Marktzulassungs-Nr. 66181) und/oder Efavirenz-Emtricitabin-Tenofovir-Mepha 600mg, 200mg, 245mg, Lactab (Swissmedic Marktzulassungs-Nr. 66217), während der Schutzdauer des ESZ C00915894/01 selber oder durch Dritte einzuführen (bzw. einführen zu lassen), auszuführen, zu lagern, herzustellen, anzubieten, zu verkaufen oder auf andere Weise in Verkehr zu bringen und/oder für die erwähnten Zwecke zu besitzen. Als Ausnahme vom Verbot gemäss vorstehendem Absatz wird der Beklagten gestattet, Produkte gemäss vorstehendem Absatz, die sich nachweislich bereits in unmittelbarem oder mittelbarem Besitz der Beklagten in der Schweiz befanden, bevor diese das Verbot vom 30. August 2017 im Verfahren S2017_006 zugestellt erhalten hat, frühestens nach Ablauf von 40 Tagen nach Rechtskraft dieses Urteils und frühestens 40 Tage nach Vorlage der entsprechenden Einfuhrdokumente und Einreichung der Angaben gemäss nachfolgender Dispositivziffer 2 in eines der am wenigsten entwickelten Länder gemäss der Liste der UNO im Zeitpunkt des Urteils auszuführen. 2. Die Beklagte wird unter Androhung einer Ordnungsbusse von mindestens CHF 5‘000 gemäss Art. 343 Abs. 1 lit. b ZPO sowie der Bestrafung ihrer Organe gemäss Art. 292 StGB verpflichtet, innerhalb von 40 Kalendertagen nach Rechtskraft des Urteils Auskunft zu erteilen unter Angabe der folgenden Informationen: a. Die Namen und Adressen der Lieferanten der lnhaltsstoffe und/oder der Halbfabrikate für die Herstellung der pharmazeutischen Produkte gemäss Dispositivziffer 1; b. Die Namen und Adressen der gewerblichen Abnehmer der pharmazeutischen Produkte gemäss Dispositivziffer 1; Seite 35 O2017_023 c. Die Mengen hergestellter, eingeführter, exponierter und/oder gelagerter pharmazeutischer Produkte gemäss Dispositivziffer 1 unter Angabe der Chargen-Nummern, Packungsgrössen, Anzahl Tabletten und Dosierungsstärken und unter Vorlage der Einbzw. Ausfuhrdokumente. 3. Die Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf CHF 60'000. Die weiteren Kosten betragen CHF 2'967.80 (Dolmetscherkosten). 4. Die Kosten, mit Ausnahme der Dolmetscherkosten, werden der Beklagten auferlegt und mit dem Kostenvorschuss der Klägerin verrechnet. Der Fehlbetrag von CHF 2'967.80 wird von der Klägerin nachgefordert. Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten von CHF 60’000 zu ersetzen. 5. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine Parteientschädigung von CHF 69'350 zu bezahlen und die Kosten von CHF 39'575 für das Massnahmeverfahren zu erstatten. 6. Die mit Entscheidung vom 30. August 2017 im Massnahmeverfahren angeordnete und mit Entscheid vom 12. Oktober aufrechterhaltene Sicherheitsleistung in der Höhe von CHF 250'000 wird aufgehoben und der Klägerin zurückerstattet. 7. Schriftliche Mitteilung an die Parteien, an die Klägerin unter Beilage der Rechnung Nr. 1185001243 (inkl. Dolmetscherrechnungen), und an beide Parteien unter Beilage des Verhandlungsprotokolls, sowie nach Eintritt der Rechtskraft an das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum, je gegen Empfangsbestätigung. Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in Zivilsachen geführt werden (Art. 72 ff., 90 ff. und 100 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]). Die Rechtsschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind beizulegen, soweit sie die beschwerdeführende Partei in Händen hat (vgl. Art. 42 BGG). Seite 36 O2017_023 St. Gallen, 3. Mai 2019 Im Namen des Bundespatentgerichts Instruktionsrichter Erste Gerichtsschreiberin Dr. iur. Christoph Gasser lic. iur. Susanne Anderhalden Versand: 07.05.2019 Seite 37