Bundespatentgericht Tribunal fédéral des brevets Tribunale federale dei brevetti Tribunal federal da patentas Federal Patent Court O2017_012 Urteil vom 4. Dezember 2019 Besetzung Verfahrensbeteiligte Instruktionsrichter Dr. iur. Daniel M. Alder Richter Dr. sc. nat. ETH Tobias Bremi (Referent), Richter Dr. sc. nat., Dipl. Chem. Hannes Spillmann, Erste Gerichtsschreiberin lic. iur. Susanne Anderhalden Acino Pharma AG, Dornacherstrasse 114, 4147 Aesch BL, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. iur. Thierry Calame, lic. iur. Lara Dorigo, und Dr. iur. Barbara Abegg, Lenz & Staehelin, Brandschenkestrasse 24, 8027 Zürich, patentanwaltlich beraten durch Dr. Markus Breuer, Breuer & Partner, ErikaMann-Strasse 23, DE-80636 München, Klägerin gegen Mundipharma Medical Company, Hamilton, Bermuda, c/o Mundipharma Medical Company, Hamilton, Bermuda, Basel Branch, St. Alban-Rheinweg 74, 4052 Basel, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. iur. Simon Holzer, MLaw Renato Bucher, und M.A. Louisa Galbraith, Meyerlustenberger Lachenal AG, Schiffbaustrasse 2, Postfach 1765, 8031 Zürich, patentanwaltlich beraten durch Dres Dirk Bühler und Andreas Ledl, Maiwald Patentanwalts GmbH, Elisenstrasse 3, DE-80335 München, Beklagte Gegenstand Patentnichtigkeit Formulierung mit Oxycodon und Naloxon II (EP 2 425 821) O2017_012 Das Bundespatentgericht zieht in Erwägung: Prozessgeschichte 1. Am 3. Juli 2017 reichte die Klägerin die vorliegende Patentnichtigkeitsklage ein mit folgenden Rechtsbegehren: «1. Es sei festzustellen, dass der schweizerische Teil des europäischen Patents EP 2 425 821 nichtig ist; 2. unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Beklagten, unter Einschluss der für die patentanwaltliche Beratung notwendigen Auslagen.» 2. Am 17. Oktober 2017 erstattete die Beklagte die Klageantwort mit dem Antrag, die Klage sei unter Kosten- und Entschädigungsfolgen abzuweisen. 3. Am 17. Mai 2018 fand eine Instruktionsverhandlung statt, eine Einigung konnte nicht erzielt werden. 4. Mit Eingabe vom 29. Juni 2018 erstattete die Klägerin die Replik ohne die Rechtsbegehren zu ändern. 5. Mit Eingabe vom 17. September 2018 erstattete die Beklagte die Duplik und stellte dabei folgende Rechtsbegehren: «1. Die Klage sei abzuweisen. 2. Eventualiter zu Rechtsbegehren Ziff. 1: Es sei der schweizerische Teil von EP 2 425 821 mit den folgenden Ansprüchen aufrechtzuerhalten: 1. Storage stable pharmaceutical oral preparations for use in treating pain and for use in concurrently reducing opioid induced obstipation, wherein each preparation comprises as the actives oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof and naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof, wherein oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof is present in said preparations in a range of usable absolute amounts and in a ratio of 2:1 to naloxone or a pharmaceutically ac- Seite 2 O2017_012 ceptable salt thereof, characterized in that the actives are released from the preparations in a sustained, invariant and independent manner. 2. Preparations for use according to claim 1, wherein the preparations comprise oxycodone and naloxone as the hydrochloride, sulfate, bisulfate, tartrate, nitrate, citrate, bitartrate, phosphate, malate, maleate, hydrobromide, hydroiodide, fumarate or succinate. 3. Preparations for use according to any of the preceding claims, wherein the preparations correspond to a tablet. 4. Preparations for use according to any of the preceding claims, wherein the preparations release in vitro 1% to 40% of oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof and naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof after 15 minutes, 40% to 80% of oxycodone or a pharmaceutical/y acceptable salt thereof and naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof after 2 hours, 70% to 100% of oxycodone or a pharmaceutical/y acceptable salt thereof and naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof after 7 hours and 85% to 100% of oxycodone or a pharmaceutical/y acceptable salt thereof and naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof after 12 hours, as determined by the Basket Method according to USP at pH 1.2 with HPLC. 3. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (einschliesslich der Kosten für die patentanwaltliche Beratung) zu Lasten der Klägerin.» 6. Am 12. Oktober 2018 reichte die Klägerin die Stellungnahme zur Duplik ein. Dazu nahm die Beklagte mit Eingabe vom 26. Oktober 2018 Stellung. Am 30. Januar 2019 reichte die Klägerin die vorläufige Stellungnahme der Einspruchsabteilung ein. Am 11. Februar 2019 reichte die Beklagte eine Stellungnahme dazu ein. 7. Am 17. Juni 2019 erstattete Richter Tobias Bremi ein Fachrichtervotum. 8. Die Stellungnahmen der Parteien dazu erfolgten je mit Eingabe vom 2. September 2019, wobei die Klägerin in ihrer Stellungnahme auf den Ausgang der mündlichen Verhandlung des parallelen Einspruchsverfahrens vom 15. Juli 2019 hinwies und die dort verkündete Widerrufsentscheidung. Seite 3 O2017_012 9. Am 18. September 2019 erfolgte eine Noveneingabe der Klägerin mit der schriftlichen Begründung des Entscheids im parallelen Einspruchsverfahren vom 11. September 2019. 10. Die Hauptverhandlung fand am 4. November 2019 statt. Prozessuales 11. Die Klägerin, ein Pharmaunternehmen, ist eine schweizerische Aktiengesellschaft mit Sitz in der Schweiz. Die Beklagte ist ein Pharmaunternehmen mit Sitz auf den Bermudas. Es handelt sich somit um einen internationalen Sachverhalt. Die Hauptklage betrifft die Nichtigkeit des Schweizer Teils des europäischen Patents EP 2 425 825 B1. Gemäss Art. 1 Abs. 2 IPRG i.V.m. Art. 22 Ziff. 4 LugÜ ist die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts für die Haupt- bzw. Nichtigkeitsklage gegeben und gemäss Art. 1 Abs. 2 IPRG i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 LugÜ ist die Zuständigkeit des Bundespatentgerichts auch für die Verletzungswiderklage gegeben. Gemäss Art. 110 Abs. 1 IPRG ist schweizerisches Recht anwendbar. Beurteilung Allgemeiner Hintergrund: 12. Das in der Nichtigkeitsklage angegriffene Patent EP 2 425 821 B1 (in der Folge EP 821) beansprucht die Priorität von zwei deutschen Prioritätsanmeldungen, die beide am 5. April 2002 eingereicht wurden. Es handelt sich um die beiden deutschen Prioritätsanmeldungen DE 102 15 131 sowie DE 102 15 067, auf welche am 4. April 2003 zunächst als Nachanmeldung eine PCT-Anmeldung, die WO 03/084520, eingereicht worden war. Die europäische regionale Phase zu dieser PCT-Anmeldung war die EP 1 492 505 B1, diese wurde im Einspruchsverfahren widerrufen, nachdem die Patentinhaberin ihr Einverständnis mit der erteilten Fassung widerrufen hatte. Das hier angegriffene Klagepatent EP 821 ist eine parallele Teilanmeldung mit der weiteren EP 2 425 824 (Gegenstand des parallelen VerfahSeite 4 O2017_012 rens O2017_013 zwischen den gleichen Parteien) zur EP 1 492 505. Daneben gibt es noch eine weitere parallele Teilanmeldung, die EP 2 425 825, welche Gegenstand eines weiteren parallelen Nichtigkeitsverfahrens zwischen den gleichen Parteien ist (O2016_017, vgl. auch O2016_016 mit anderer Klägerin und gleicher Beklagter). In einer Übersicht kann das wie folgt zusammengefasst werden: 13. Die Klägerin verwendet folgende Merkmalsanalyse, hier in der Verfahrenssprache des Klagepatents wiedergegeben und in der weiteren Diskussion so verwendet: 1.1.1 Pharmaceutical 1.1.2 oral preparations 1.2.1 for use in treating pain and 1.2.2 for use in concurrently reducing opioid induced obstipation, wherein 1.3.1 each preparation comprises as the actives oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof and 1.3.2 naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof, wherein Seite 5 O2017_012 1.4 oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof is present in said preparations in a range of usable absolute amounts and 1.5 in a ratio of 2:1 to naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof, characterized in that 1.6.1 the actives are released from the preparations in a sustained, 1.6.2 invariant and 1.6.3 independent manner. Fachmann: 14. Nach Auffassung der Klägerin handelt es sich beim Fachmann um einen Galeniker (Formulierungsspezialist) mit Erfahrung im Gebiet der Herstellung und Testung oraler pharmazeutischer Darreichungsformen. Er arbeitet zusammen in einem Team mit Pharmakologen und Klinikern. Die Beklagte teilt die Meinung, dass ein Team zu berücksichtigen ist mit den gleichen Mitgliedern, wie von der Klägerin vorgeschlagen, legt aber Wert darauf, dass der Kliniker den Lead in diesem Team haben soll. Es sei Aufgabe des Klinikers, den wesentlichen Effekt der Erfindung, die Reduktion von Verstopfung bei gleichzeitigem Erhalt der analgetischen Wirkung, zu erreichen, und festzulegen, welche Substanzen zusammen mit verzögerter Freisetzung formuliert werden sollen. Die Klägerin stellt sich dieser Ansicht entgegen, weil es sich um eine pharmazeutische Formulierung handle mit bestimmten Mengenverhältnissen der Wirkstoffe, selbst wenn der Kliniker den Lead hätte, sei das Patent aber nichtig. 15. Tatsächlich ergibt sich aus den Absätzen [0037] und [0043] sowie [0044] des Klagepatents EP 821 nicht nur die Reduktion der Nebenwirkungen, sondern auch das reduzierte Missbrauchspotenzial und die reduzierte Verabreichungsfrequenz und die Stabilität und Unabhängigkeit der Freisetzung der beiden Wirkstoffe. Das sind genau jene Themen, mit denen sich vornehmlich der Formulierungsspezialist in der Praxis auseinandersetzt. Das Klagepatent EP 821 legt zudem selber dar, dass aus der EP 0 352 361 die von der Beklagten hervorgehobene Reduktion der Nebenwirkung der Verstopfung durch die Kombination eines Opioid-Agonisten mit einem Antagonisten bereits bekannt ist (vgl. [0017] wobei als Antagonist Naltrexon eingesetzt wird). Seite 6 O2017_012 16. Es ist entsprechend davon auszugehen, dass der Lead im Team wohl beim Formulierungsspezialisten liegen dürfte, was auch die Ausführungsbeispiele im Klagepatent belegen, die vor allem unterschiedliche Formulierungen, d.h. variable Zusammensetzungen der Zusatzstoffe neben den eigentlichen Wirkstoffen, beschreiben und experimentell belegen. Dabei wird aber eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Formulierungsspezialisten und dem Kliniker angenommen, das heisst, wer von den beiden nun effektiv den Lead im Team hat, ändert am Resultat der Beurteilung nichts. Zulässigkeit der Änderungen: 17. Das Klagepatent ist eine Teilanmeldung, die ausgehend von der gleichen Stammanmeldung EP 1 492 505, der europäischen regionalen Phase der WO 2003/084520, eingereicht wurde. Nach Art. 76 und Art. 123 EPÜ und nach der Rechtsprechung der Grossen Beschwerdekammer des EPA (vgl. G1/061) muss daher der beanspruchte Gegenstand in den eingereichten Unterlagen der Vorgeneration(en) (WO 2003/084520 bzw. EP 1 492 505) und in den eingereichten Unterlagen der Anmeldung selber ausreichende Stützung finden.2 Das Besondere an der vorliegenden Situation ist, dass das Klagepatent zunächst als Teilanmeldung ohne Ansprüche eingereicht wurde. Die Ansprüche wurden erst nach der Einreichung der Teilanmeldung eingereicht, was zulässig ist, aber die nachträglich eingereichten Ansprüche sind nicht Bestandteil der ursprünglich eingereichten Offenbarung der Teilanmeldung. Daher sind die mit der Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung veröffentlichten Ansprüche einerseits nicht Bestandteil der ursprünglich eingereichten Offenbarung für die Zwecke der Anwendung von Art. 76 und Art. 123 EPÜ.3 Andererseits ist es unbestritten, dass die Ansprüche der ursprünglichen internationalen Anmeldung, wie sie damals eingereicht wurden, bei der Einreichung der Teilanmeldung in einem Absatz hinzugefügt wurden, der mit dem Satz «Einige Ausführungsformen der Erfindungen beziehen sich G1/06, ABl 2008, 307. Vgl. G1/06, sowie Diskussion von Teschemacher in Singer/Stauder, EPÜ, 7. Auflage, Art. 76, Rdn. 13. 3 Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, A-III, 15. 1 2 Seite 7 O2017_012 auf» beginnt, hier ist das der Absatz [0127] der Offenlegungsschrift (EP 2 425 821), und dass der Rest der Offenbarung, wie sie in der Teilanmeldung eingereicht wurde, identisch mit der Offenbarung der ursprünglich eingereichten internationalen Stammanmeldung WO 2003/084520 ist. Ob daher eine ausreichende Stützung vorliegt, wird gemäss den Anforderungen der Artikel 76 und 123 EPÜ auf der Grundlage der Absätze [0001]-[0127] der Offenlegung von EP 821 geprüft. 18. Anspruch 1 in der ursprünglich eingereichten Fassung lautete wie folgt: A storage stable pharmaceutical preparation comprising oxycodone and naloxone characterized in that the active compounds are released from the preparation in a sustained, invariant and independent manner. Unter Verwendung der oben genannten Merkmalsanalyse unterscheidet sich der erteilte Anspruch von dem ursprünglich eingereichten wie folgt: 1.1.1 Pharmaceutical 1.1.2 oral storage stable preparations 1.2.1 for use in treating pain and 1.2.2 for use in concurrently reducing opioid induced obstipation, 1.3.1 wherein each preparation comprises as the actives oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof and 1.3.2 naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof, wherein 1.4 oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof is present in said preparations in a range of usable absolute amounts and 1.5 in a ratio of 2:1 to naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof, characterized in that 1.6.1 the actives are released from the preparations in a sustained, 1.6.2 invariant and 1.6.3 independent manner. 19. Die Klägerin behauptet im Zusammenhang mit dem unabhängigen Anspruch 1 des Klagepatents bezüglich folgender Aspekte unzulässige Änderung (Art. 123 (2) EPÜ): Seite 8 O2017_012 - unzulässige Änderung in Bezug auf das Merkmal «oxycodone/naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof»; - Zwischenverallgemeinerung in Bezug auf «storage stable»; - Zusätzliches Merkmal «for use in the concurrent reduction of opioid induced obstipation»; - Mehrfachauswahl in Bezug auf: (1.1.2) orale Formulierung; (1.5) Gewichtsverhältnis von 2:1; (1.2.2) Auswahl einer bestimmten Nebenwirkung für einen zweiten medizinischen Verwendungsanspruch. Unzulässige Änderung in Bezug auf das Merkmal «oxycodone/naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof»: 20. Hierin ist keine unzulässige Änderung oder Zwischenverallgemeinerung zu sehen. In Anspruch 2 wie ursprünglich im Wesentlichen eingereicht wird das pharmazeutisch annehmbare Salz des jeweiligen Wirkstoffs erwähnt, und die Salze sind eine Möglichkeit des Merkmals in diesem Anspruch von «gleich aktiven Derivaten». Darüber hinaus ist dies in [0051] zu finden. Wenn wie in [0051] von «pharmaceutical acceptable and equally active» die Rede ist, so versteht der Fachmann, wenn spezifisch von Salzen die Rede ist, den Begriff «pharmaceutical acceptable» ohne weiteres als gleichermassen aktiv, da dies bei der Formulierung der Wirkstoffe als Salze in der Regel vorausgesetzt ist. Zwischenverallgemeinerung in Bezug auf «storage stable»: 21. Die Behauptung, dass eine unzulässige Verallgemeinerung in Bezug auf das Merkmal «storage stable» gegeben sein soll, wurde von der Klägerin zum ersten Mal in der Replik aufgestellt. Dort wird unter Bezugnahme auf die Ausführungsform 7 im Abschnitt [0127] der Offenlegungsschrift ausgeführt, dass es um lagerstabile Präparate gehe, die durch eine verzögerte, gleichbleibende und unabhängige Freisetzung gekennzeichnet seien, und dass diese Merkmale die Ausführungsformen kennzeichneten und den Kern der Erfindung darstellten, wie sie in der Anmeldung dargelegt seien. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, gerade diese die Freisetzung kennzeichnenden Merkmale wegzulassen. Seite 9 O2017_012 Anlässlich der Hauptverhandlung vom 4. November 2019 hat die Klägerin die diesbezüglichen Argumente zur unzulässigen Verallgemeinerung auf weitere Textstellen in der ursprünglichen Offenbarung der Offenlegungsschrift gestützt, namentlich wurde verwiesen auf [0031], [0032] sowie [0127]. 22. Die Beurteilung, ob eine zulässige oder unzulässige Änderung vorgenommen wurde, im Sinne von Art. 123 (2) EPÜ resp. Art. 58 PatG in Verbindung mit Art. 26 Abs. 1 lit. C PatG, ist grundsätzlich eine Rechtsfrage, die vom Gericht zu beurteilen ist («iura novit curia», Art. 57 ZPO). Der zur Beurteilung dieser Rechtsfrage erforderliche Sachverhalt ist von den Parteien in das Verfahren einzuführen («da mihi facta, dabo tibi ius»), und das Gericht ist an den von den Parteien eingeführten Sachverhalt gebunden («quod non est in actis non est in mundo», Verhandlungsgrundsatz, Art. 55 ZPO). Der für die Beurteilung der Zulässigkeit von Änderungen einschlägige Sachverhalt ist abschliessend gegeben durch das Patent in der erteilten Fassung sowie in der ursprünglich eingereichten Fassung. Das Patent in der erteilten Fassung liegt als Beilage im Recht und gleiches gilt für die ursprünglich eingereichte Fassung. 23. Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. d und e ZPO muss die Klage die Tatsachenbehauptungen und die Bezeichnung der einzelnen Beweismittel zu den behaupteten Tatsachen enthalten. Zweck dieses Erfordernisses ist gemäss Bundesgericht,4 dass das Gericht erkennen kann, auf welche Tatsachen sich der Kläger stützt und womit er diese beweisen will, sowie die Gegenpartei weiss, gegen welche konkreten Behauptungen sie sich verteidigen muss (Art. 222 ZPO). Entsprechend ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der Behauptungs- und Substanziierungslast im Prinzip in den Rechtsschriften nachzukommen. Der blosse pauschale Verweis auf Beilagen genügt in aller Regel nicht.5 Es geht darum, dass nicht das Gericht und die Gegenpartei aus den Beilagen die Sachdarstellung zusammensuchen müssen. Es ist nicht an ihnen, Beilagen danach BGer 4A_443/2017, Urteil vom 30. April 2018, E.2.2.2 sowie BGer 4A_281/2017, Urteil vom 22. Januar 2018, E.5. 5 BGer 4A_264/2015, Urteil vom 10. August 2015, E. 4.2.2; 5A_61/2015, Urteil vom 20. Mai 2015, E. 4.2.1.3; 4A_317/2014, Urteil vom 17. Oktober 2014, E. 2.2; BGer 4A_195/2014 und 4A_197/2014, Urteile vom 27. November 2014, E. 7.3, nicht publ. in BGE 140 III 602. 4 Seite 10 O2017_012 zu durchforsten, ob sich daraus etwas zu Gunsten der behauptungsbelasteten Partei ableiten lässt.6 Das bedeutet nicht, dass es nicht ausnahmsweise zulässig sein kann, seinen Substanziierungsobliegenheiten durch Verweis auf eine Beilage nachzukommen. In der Lehre wird zum Teil generell die Auffassung vertreten, durch Verweis auf Akten könnten Sachverhaltselemente als behauptet gelten, wenn der entsprechende Verweis in der Rechtsschrift spezifisch ein bestimmtes Aktenstück nennt und aus dem Verweis in der Rechtsschrift selbst klar wird, welche Teile des Aktenstücks als Parteibehauptung gelten sollen.7 Auch das Bundesgericht verlangt nicht, dass Beilagen, die der Substanziierung dienen, zwingend integral im Volltext in die Rechtsschriften übernommen werden. Der Verweis auf eine Beilage ist aber jedenfalls ungenügend, wenn die Beilagen für sich selbst nicht erlauben, die geltend gemachten Positionen zu prüfen und gegebenenfalls substanziiert zu bestreiten, und die Beilagen in den Rechtsschriften nicht hinreichend konkretisiert und erläutert werden.8 24. Das Zivilprozessrecht bezweckt, dem materiellen Recht zum Durchbruch zu verhelfen.9 Bei den formellen Anforderungen an die Substanziierung ist daher immer zu beachten, dass eine sinnvolle Prozessführung möglich sein muss. Gemäss Bundesgericht kommt hinzu,10 dass es nicht darauf ankommt, von welcher Partei das Sachverhaltselement in diesem Zusammenhang geltend gemacht wurde, damit sich das Gericht in seiner Beantwortung der Rechtsfrage auf ein bestimmtes Sachverhaltselement stützen kann. Zu guter Letzt sind gemäss Art. 151 ZPO bekannte Tatsachen, d.h. offenkundige und gerichtsnotorische Tatsachen sowie allgemein anerkannte Erfahrungssätze von Amtes wegen zu berücksichtigen und bedürfen keines Beweises. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung11 darf der Vgl. BGer 4A_195 und 4A_197/2014, Urteile vom 27. November 2014, E. 7.3.3 mit Hinweisen. 7 HURNI, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. 1, 2012, N. 21 zu Art. 55 ZPO; SUTTER-SOMM/SCHRANK, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N 31 zu Art. 55 ZPO; je mit Hinweisen. 8 Vgl. zit. Urteil 4A_264/2015 E. 4.2.2. 9 BGE 139 III 457 E. 4.4.3.3 S. 463 mit Hinweisen. 10 BGer 4A_435/2018, Urteil vom 29. Januar 2019, E. 4.3.2. 11 BGer 4A_37/2014, Urteil vom 24. Juni 2014, E. 2.4.1 6 Seite 11 O2017_012 Richter solche sog. gerichtsnotorische Tatsachen im Rahmen des Prozessthemas unbesehen der Parteibehauptungen von Amtes wegen in den Prozess einführen.12 Dazu gehörten namentlich Beweisergebnisse aus früheren Verfahren zwischen den nämlichen Parteien, aber auch Tatsachen, von denen der Richter aus Drittprozessen Kenntnis habe und die sich innerhalb des durch die Parteibehauptungen umrissenen Prozessthemas bewegten.13 Zu beachten bliebe dabei das Amtsgeheimnis, welches der Verwendung von Wissen aus anderen Prozessen Grenzen setzt, sowie das rechtliche Gehör der Parteien. Diese Bestimmung ist für das Bundespatentgericht von besonderer Bedeutung bei parallelen Nichtigkeitsverfahren gegen das gleiche Patent, da im Gegensatz zu anderen Jurisdiktionen (z.B. EPA-Einspruchsverfahren oder Nichtigkeitsverfahren beim deutschen Bundespatengericht) derartige Verfahren nicht ohne weiteres vereinigt werden können. In der vorliegenden Situation gibt es ein paralleles Nichtigkeitsverfahren O2017_009 zum hier behandelten Klagepatent EP 821, das zugehörige Urteil wurde am 7. November 2019 erlassen und gemäss Informationsreglement für das Bundespatentgericht Art. 3 Abs. 1 nach 10 Tagen auf der Website des Bundespatentgerichts publiziert. Die in diesem Parallelurteil im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der Änderungen behandelten Sachverhaltselemente könnten somit ohne Verletzung des Amtsgeheimnisses in diesem Prozess vom Gericht verwendet werden. 25. Im vorliegenden Fall sind Klagepatent und Offenlegungsschrift übersichtliche Dokumente, die der Patentinhaberin bestens bekannt sind, und vom Gericht für eine Beurteilung eines Falls für Auslegung, Rechtsbestandsprüfung und Verletzungsprüfung in jedem Fall ohnehin integral im Detail zu studieren sind. Wenn das Gericht mithin auf Basis dieses Sachverhalts (Klagepatent und Offenlegungsschrift) auf Sachverhaltselemente (Offenbarungsstellen in der Offenlegungsschrift) stösst, die zur Beantwortung der Rechtsfrage der Zulässigkeit der Änderungen in Bezug auf diese Merkmale einschlägig sind, so sind diese Sachverhaltselemente unabhängig davon, von welcher Partei sie im Verfahren im Zusammenhang mit dieser Rechtsfrage Verweis in BGer 4A_37/2014, Urteil vom 24. Juni 2014, E. 2.4.1 auf BGE 135 III 88 E. 4.1 S. 89 m.H. 13 Verweis in BGer 4A_37/2014, Urteil vom 24. Juni 2014, E. 2.4.1 auf HANS SCHMID, in: Oberhammer et al. [Hrsg.], Kurzkommentar zur ZPO, 2. Aufl. 2014, N 4 zu Art. 151 ZPO; RETO BIERI, Die Gerichtsnotorietät - ein "unbeschriebenes Blatt im Blätterwald", ZZZ 2006, S. 193 12 Seite 12 O2017_012 aufgebracht wurden, zu berücksichtigen. Vom Gericht weiter zu berücksichtigen sind in einer Rechtsschrift nicht spezifisch referenzierte Offenbarungsstellen in der Offenlegungsschrift, die zur Einordnung der von einer Partei in einer Rechtsschrift ausdrücklich angeführten Offenbarungsstellen aber quasi zwingend erforderlich und damit in jedem Fall zu konsultieren sind. Ebenfalls zu berücksichtigen sind in einer Rechtsschrift nicht ausdrücklich vermerkte Offenbarungsstellen in der Offenlegungsschrift, die unmittelbar auf referenzierte Offenbarungsstellen folgen und eindeutig den gleichen technischen Aspekt betreffen wie dieser und diesen vertiefen. 26. Die Klägerin behauptet in der Replik unter Bezugnahme auf [0127] der Offenlegungsschrift, dass der Kern der Erfindung, wie sie in der Anmeldung dargelegt ist, gegeben ist durch lagerstabile Präparate, die durch eine verzögerte, gleichbleibende und unabhängige Freisetzung gekennzeichnet sind. In [0127] der Offenlegungsschrift werden für eine Patentschrift eher unüblich am Ende der gesamten Beschreibung und vor den Ansprüchen weitere Ausführungsformen dargelegt. Bei einer Teilanmeldung erkennt dies der Fachmann aber als Strategie der Anmelderin, die ursprünglich eingereichten Ansprüche der Stammanmeldung nicht als Ansprüche einzureichen, sondern als Teil der Beschreibung, um diesen Teil der Beschreibung für die Formulierung von anderen Ansprüchen als Offenbarung zur Verfügung zu haben. Er erkennt mithin, dass die erste unabhängige Ausführungsform in [0127] den oder wenigstens einen der Kernpunkte der Erfindung ausmacht. Um diesen zu verstehen, muss er ohnehin und zwingend das Herzstück der Offenbarung, namentlich wenigstens [0030]-[0035], die Textstelle, in welcher das Ziel der Erfindung und die wesentlichen Elemente nach der Darstellung des Standes der Technik angegeben werden, berücksichtigen. Wenn mithin die Klägerin auf [0127] verweist und wie oben auf den Kern der Erfindung hinweist, so ist das ohne weiteres und ohne zusammensuchen von Sachverhaltselementen in der Beilage auch ein Verweis auf die Textstellen in [0030]-[0035] der Offenlegungsschrift, weil ohne diese Textstellen eine sinnvolle Einordnung von [0127] gar nicht möglich ist. Seite 13 O2017_012 Weiter verweist die Beklagte ihrerseits im Zusammenhang mit der Lagerstabilität auf die Absätze [0053]-[0057] des Klagepatents, mithin auf [0042]-[0046] der Offenlegungsschrift. Auf Basis dieser Sachverhaltselemente ist die Frage der Zulässigkeit der Änderungen oder spezifischer das Weglassen der gleich bleibenden und unabhängigen Freisetzung wie folgt zu beurteilen. Dieses funktionale Merkmal wird bei der anfänglichen Beschreibung des Kerns der Erfindung jeweils ausdrücklich genannt (vgl. [0031]-[0032]), und dann technisch spezifiziert in [0043]-[0046], wobei sogar effektive Zahlwerte für die Zulässigkeit von Fluktuationen und die möglichen Lagerungsbedingungen angegeben werden (vgl. [0043] und [0044]) sowie eine Messmethode (vgl. [0046]). Damit ein ursprünglich genanntes Merkmal weggelassen werden kann, muss es entweder für den Fachmann zweifelsfrei erkennbar keinen technischen Beitrag leisten, oder es muss für den Fachmann zweifelsfrei erkennbar sein, dass es, obwohl es einen technischen Beitrag leistet, nicht zwingend für die Erfindung und insbesondere mit den anderen Anspruchsmerkmalen verknüpft ist und deshalb auch weggelassen werden kann. Es sei diesbezüglich verwiesen auf G 2/10 und auf eine treffende Zusammenfassung zum Thema des Weglassens von Merkmalen in T1852/13 vom 31.1.2017, Gründe 2.2.1: «In ihrer Entscheidung G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) hat die Grosse Beschwerdekammer die frühere Rechtsprechung bekräftigt, der zufolge das Grundprinzip des Artikels 123 (2) EPÜ darin besteht, dass jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) nur im Rahmen dessen erfolgen darf, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (siehe Punkt 4.3 der Entscheidungsgründe). Zu prüfen ist also, ob der Fachmann unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens den beanspruchten Gegenstand als – explizit oder implizit – unmittelbar und eindeutig in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbart ansehen würde (Punkt 4.5.4 der Entscheidungsgründe). Dieser allgemein akzeptierte Massstab für die Beurteilung der Frage, ob eine Änderung mit Artikel 123 (2) EPÜ Seite 14 O2017_012 in Einklang steht, wird von der Grossen Beschwerdekammer selbst als «Goldstandard» bezeichnet (letzter Absatz von Punkt 4.3 der Entscheidungsgründe: «... one could also say the «gold» standard ... »). Der Einfachheit halber wird im Folgenden ebenso dieser Begriff verwendet; in der Fachliteratur nennt man den Goldstandard manchmal auch den «Offenbarungstest» (disclosure test).», sowie Gründe 2.2.7: «Die Kammer ist zum Schluss gelangt, dass der Wesentlichkeitstest nicht mehr zum Einsatz kommen sollte.» Grundsätzlich geht der Fachmann beim Lesen einer Patentanmeldung oder einer Patentschrift a priori zunächst einmal davon aus, dass Merkmale, wenn sie ausdrücklich in einem unabhängigen Anspruch genannt werden, auch einen technischen Beitrag leisten und damit wichtig und nicht einfach überflüssig sind, sofern es nicht eindeutige Hinweise in der Beschreibung für das Gegenteil gibt. Damit ein Merkmal aus einem ursprünglich eingereichten unabhängigen Anspruch weggelassen werden kann, genügt es also nicht, zu zeigen, dass es nirgends als wichtig hervorgehoben wird, sondern es muss gezeigt werden, dass für den Fachmann im Lichte der Beschreibung zweifelsfrei erkennbar ist, dass das Anspruchsmerkmal gar keinen technischen Beitrag leistet oder auch – weil technisch nicht zwingend – weggelassen werden kann. Mithin muss gezeigt werden, dass der Fachmann unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens den beanspruchten Gegenstand auch ohne das Merkmal als – explizit oder implizit – unmittelbar und eindeutig in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbart ansehen würde. Dieses Merkmal der Lagerstabilität wegzulassen, ist entsprechend eine Zwischenverallgemeinerung, denn das Merkmal wird im ursprünglich eingereichten unabhängigen Anspruch genannt, in den ursprünglich eingereichten Unterlagen durchwegs als erfindungswesentlich hervorgehoben und es leistet gemäss den ursprünglich eingereichten Unterlagen einen ausdrücklich definierten technischen Beitrag. Dies deckt sich mit der Sichtweise der korrespondierenden Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 11. September 2019 betreffend EP 821, vgl. E. 2.10. Seite 15 O2017_012 Ebenfalls deckt sich diese Sichtweise mit dem analogen Verfahren zur EP 825 und der dortigen rechtskräftigen Entscheidung (vgl. O2016_16 E. 37). Zusätzliches Merkmal «for use in the concurrent reduction of opioid induced obstipation»: 27. Hier gibt es keine unzulässige Änderung, zumindest wenn man das Merkmal für sich allein und isoliert betrachtet. Die Verringerung der Obstipation wird als eine der primären Wirkungen der Erfindung in [0032] erwähnt, so dass es eine ausreichende Grundlage für die Einführung dieses Merkmals in den Anspruch gibt. Auch aus der Offenbarung in [0032] leitet der Fachmann wenigstens implizit ab, dass die Obstipation diejenige ist, die durch Opioid induziert wird. Wie die Auswahl dieses Merkmals in der gesamten Merkmalskombination von Anspruch 1 zu beurteilen ist, ist Gegenstand des nächsten Absatzes. Für sich allein betrachtet kann dieses Merkmal den ursprünglich eingereichten Unterlagen entnommen werden. Mehrfachauswahl in Bezug auf: 1.1.2 orale Formulierung, 1.5 Gewichtsverhältnis von 2:1; 1.2.2 Auswahl einer bestimmten Nebenwirkung für einen zweiten medizinischen Verwendungsanspruch: 28. Was die orale Formulierung angeht, so ist dies die primäre und bevorzugte Art der Verabreichung, die in [0053] erwähnt wird. Für dieses zusätzliche Merkmal gibt es keine Auswahl. Das Gewichtsverhältnis von 2:1 ist in einer Liste in der Ausführungsform nach 7. innerhalb von [0127] ausdrücklich erwähnt. Im Wesentlichen ist das Gleiche in [0054] angegeben. Was die Obstipation betrifft, so ist dieses Merkmal in einer anderen Liste von mehreren Möglichkeiten in [0032] enthalten. Grundsätzlich ist es ständige Praxis des europäischen Patentamts (vgl. insbesondere T12/81, T401/94, T7/86, T181/82, sowie insbesondere auch die von der Beklagten zitierte T0783/09, E5.5), bei einer Auswahl aus mehr als zwei Listen davon auszugehen, dass keine Neuheit vorliegt respektive, analog, eine unzulässige Änderung vorgenommen wurde. Seite 16 O2017_012 Rein formal betrachtet könnte entsprechend davon ausgegangen werden, dass eine unzulässige Änderung vorliegt, denn es muss aus einer ersten Liste für das Gewichtsverhältnis ausgewählt werden (zum Beispiel aus [0054]) und aus einer zweiten Liste für die spezifische veränderte Nebenwirkung (zum Beispiel aus [0032]). Entscheidend ist aber im Sinne der oben zitierten G2/10 jeweils natürlich nicht die formale «zwei Listen»-Betrachtungsweise, sondern letzten Endes die Frage, ob dem Fachmann die beanspruchte Lehre durch die Gesamtheit der ursprünglich eingereichten Unterlagen unmittelbar und eindeutig offenbart wurde (der sogenannte «Goldstandard», vgl. insbesondere auch die von der Beklagten zitierte T0783/09, E5.6). Entsprechend ist zu prüfen, ob die ursprünglich eingereichten Unterlagen dem Fachmann unmittelbar und eindeutig die Merkmalskombination des spezifischen Wirkstoffverhältnisses von 2:1 dieser beiden spezifischen Wirkstoffe mit der Reduktion der Obstipation offenbaren, mithin ob es Hinweise für den Fachmann gibt, dass gerade diese doppelte Auswahl aus zwei Listen von besonderem Interesse ist. Was die Reduktion der Obstipation angeht, so stellt man fest, dass auch bei der allgemeinen Beschreibung des Standes der Technik in [0011] sowie [0019] diese Nebenwirkung im Rahmen einer jeweils Liste offenbart wird. Diese Liste ist jeweils ähnlich aufgebaut oder gleich wie in [0032], wo es um die eigentliche Erfindung geht, und eben neben der Obstipation auch noch die Entwicklung von Abhängigkeit und Atemdepression erwähnt werden. Es gibt zwar bei der Diskussion des Standes der Technik in den Absätzen [0015], [0016], [0018] sowie [0028] einen gewissen Fokus auf Obstipation, aber dies eben nur im ganz spezifischen Zusammenhang von ausgewählten Dokumenten des Standes der Technik. In den ursprünglich eingereichten Unterlagen findet man die Obstipation jeweils als Nebenwirkung nur in [0032] sowie [0057] und dort aber jeweils nur im Rahmen der oben bereits beschriebenen Liste mit zwei weiteren Nebenwirkungen. In den spezifischen Ausführungsbeispielen wird die Nebenwirkung überhaupt nicht thematisiert. Mit anderen Worten findet man nirgends in der Beschreibung einen spezifischen Pointer, der einen Hinweis auf eine besondere Fokussierung auf die Obstipation geben könnte. Ähnliches gilt für das spezifische Verhältnis von 2:1. In der allgemeinen Beschreibung findet man dieses Merkmal in [0054] und im Rahmen von [0127] auf Seite 16:30 der Offenlegungsschrift. Dort wird dieses VerhältSeite 17 O2017_012 nis aber bei der engsten bevorzugten Ausführungsform immer noch in einer Liste offenbart, nämlich in folgender Liste: 15:1, 10:1, 5:1, 4:1, 3:1, 2:1 und 1:1. In den Beispielen gibt es spezifische Beispiele mit einem Verhältnis von Oxycodon zu Naloxon von 2:1; es gibt aber auch Beispiele mit Verhältnissen von 20:1 und 4:1, und Beispiele mit Verhältnis 2:1 gibt es dann auch nur für die spezifischen Mengen 20 mg und 10 mg und für die jeweiligen Hydrochlorid-Formen der Wirkstoffe. Zudem wird in den Beispielen jeweils mit einem ganz spezifischen System von MatrixSubstanzen gearbeitet, konkret Ethylcellulose und Stearylalkohol, d.h. das in den Beispielen offenbarte spezifische Verhältnis ist nur im Zusammenhang mit diesem Formulierungssystem offenbart. Somit gibt es auch keinen spezifischen Pointer, der einen Hinweis auf eine besondere Fokussierung des Verhältnisses 2:1 der beiden Wirkstoffe geben könnte. Damit fehlt einerseits in den ursprünglich eingereichten Unterlagen die Offenbarung, dass das spezifische Verhältnis von 2:1 in irgendeinem speziellen Zusammenhang mit der Reduktion von Obstipation steht. Es fehlt andererseits aber auch in den ursprünglich eingereichten Unterlagen die unmittelbare und eindeutige Offenbarung des spezifischen Verhältnisses von 2:1 als mit besonderen Vorteilen verbunden und besonders bevorzugt, und die unmittelbare und eindeutige Offenbarung der spezifischen Nebenwirkung von Obstipation, wiederum als Kernelement der Erfindung, d.h. als besonders bevorzugt. Damit kommt diese inhaltliche Überprüfung letzten Endes zum gleichen Resultat wie die rein formale Überprüfung (formale Auswahl aus mehreren Listen), für die Merkmalskombination gibt es keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung in den ursprünglich eingereichten Unterlagen. 29. Zum gleichen Resultat kommt auch die Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Stellungnahme vom 17. Januar 2019, wo unter 1.5-1.11 ebenfalls vorläufig auf eine unzulässige Mehrfachauswahl beim Gewichtsverhältnis von 2:1 und der Verhinderung der Obstipation erkannt wird. Gleichermassen deckt sich diese Sichtweise mit der korrespondierenden Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 11. September 2019 betreffend EP 821 (vgl. ausführlich E. 2.4-2.9). Ergänzend zu den obigen Ausführungen sei bei Berücksichtigung der parallelen Entscheidung der Einspruchsabteilung Folgendes bemerkt, dass man sogar noch eine weitere Auswahl sehen könnte: Bei der Liste der möglichen Nebenwirkungen wird Seite 18 O2017_012 in der ursprünglich eingereichten Fassung nämlich jeweils in Bezug auf jede dieser Nebenwirkungen festgehalten, dass diese unterdrückt oder wenigstens wesentlich reduziert werden. Beansprucht wird aber von diesen beiden Möglichkeiten, die unterschiedliche Niveaus repräsentieren, nicht die vollständige Unterdrückung, sondern die Reduktion. Damit gibt es keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung für den Gegenstand von Anspruch 1 des Klagepatents und die EP 821 ist im Rahmen des Prüfungsverfahrens in der ursprünglich erteilten Fassung unzulässig geändert worden, weshalb der Nichtigkeitsklage stattzugeben ist. Hilfsantrag gemäss Eingabe vom 17. September 2018 30. Anspruch 1 gemäss erstem Hilfsantrag lautet wie folgt, wobei die Änderungen bzgl. der erteilten Fassung hervorgehoben sind: 1.1.1 Storage stable pharmaceutical 1.1.2 oral preparations 1.2.1 for use in treating pain and 1.2.2 for use in concurrently reducing opioid induced obstipation, wherein each preparation comprises as the actives 1.3.1 oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof and 1.3.2 naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof, wherein 1.4 oxycodone or a pharmaceutically acceptable salt thereof is present in said preparations in a range of usable absolute amounts and 1.5 in a ratio of 2:1 to naloxone or a pharmaceutically acceptable salt thereof, characterized in that 1.6.1 the actives are released from the preparations in a sustained, 1.6.2 invariant and 1.6.3 independent manner. 31. Die Beklagte macht auch hier unzulässige Änderungen geltend, im Wesentlichen aus den gleichen Gründen wie bei der erteilten Fassung. 32. Tatsächlich gelten die oben im Zusammenhang mit der erteilten Fassung Seite 19 O2017_012 ausgeführten Gründe, mit Ausnahme der Lagerungsstabilität, die im Hilfsantrag nun ausdrücklich aufgeführt wird, auch im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag. Es gibt keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung der Kombination von der Verhinderung von Obstipation und den spezifischen Mengen von Oxycodon und Naloxon in den ursprünglich eingereichten Unterlagen. Auch diese Beurteilung deckt sich mit der parallelen Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 11. September 2019, denn der hier gestellte 1. Hilfsantrag entspricht dem Hilfsantrag IX im parallelen Einspruchsverfahren. Auch der Hilfsantrag ist deshalb unzulässig geändert. Die EP 821 ist im Umfang des Hilfsantrages unzulässig geändert worden, weshalb der Nichtigkeitsklage auch in diesem Umfang stattzugeben ist. 33. Insbesondere im Zusammenhang mit der Stellungnahme der Beklagten zum Fachrichtervotum seien an dieser Stelle zur Frage der Zulässigkeit der Änderungen folgende Ergänzungen angefügt: In der Stellungnahme der Beklagten zum Fachrichtervotum macht diese im Wesentlichen folgendes geltend: – – die Auswahl des Verhältnisses 2:1 aus der ursprünglich offenbarten Liste von sieben verschiedenen Verhältnissen im Bereich von 15:11:1 stelle keine Auswahl im eigentlichen Sinne dar, da sämtliche dieser Verhältnisse die gleiche Wirkungsweise hätten und das gleiche technische Problem lösen würden. Eine Streichung von Elementen aus einer Liste sei gemäss Rechtsprechung der Beschwerdekammern keine unzulässige Änderung, dies unter Bezugnahme auf T783/09. Es brauche dann auch keinen spezifischen Pointer auf ein Mitglied in dieser Liste. Die Auswahl der Reduktion der Verstopfung sei keine Auswahl, da es sich bei dieser Nebenwirkung um die üblichste Nebenwirkung handle, das sei dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt bestens bewusst gewesen und es gebe diesbezüglich einen Pointer auf diese Nebenwirkung. Zudem sei diese Nebenwirkung jene, auf welche in den ursprünglich eingereichten Unterlagen der Hauptfokus gelegt sei. Seite 20 O2017_012 34. Dazu ist zu bemerken, dass die von der Beklagten zitierte T783/09 für die vorliegende Situation aus folgenden Gründen nicht einschlägig ist: Beim dort der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt wurde ausgehend vom ursprünglich eingereichten Anspruch für den DPP-IV Inhibitor des ursprünglich eingereichten Anspruchs die Komponente LAF237 aus einer ersten Liste ausgewählt, und für die im ursprünglichen Anspruch genannte zusätzliche antidiabetische Komponente aus einer zweiten Liste mit 22 Komponenten eine Untergruppe von 3 Systemen ausgewählt. Die Entscheidung führt dann selber aus, dass bei einer Auswahl aus zwei Listen grundsätzlich eine unzulässige Änderung vorliegt unter Bezugnahme auf die oben bereits angegebene T12/81 (E. 5.5, vgl. auch T1581/12). Es wird dann, ebenfalls wie in der obigen Begründung, festgehalten, dass grundsätzlich letzten Endes aber zu prüfen ist, ob die ursprünglich eingereichten Unterlagen eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung des beanspruchten Gegenstandes bereitstellen (vgl. E. 5.6). Unter Bezugnahme auf die Entscheidung T10/97 (vgl. E. 6.4) wird dabei festgehalten, dass die Auswahl einer Untergruppe aus einer grösseren Gruppe nicht als Auswahl zu betrachten ist (vgl. auch zum Beispiel die neuere Entscheidung T1066/01, E. 3.2.1). Das entspricht effektiv der etablierten Rechtsprechung des europäischen Patentamts: Aus verschiedenen Listen können einzelne Elemente weggestrichen werden, ohne dass dadurch eine unzulässige Änderung entsteht. Entsprechend, weil eben beim Sachverhalt der T783/09 die Liste für die zusätzliche antidiabetische Komponente nur reduziert, aber nicht auf ein einziges Element individualisiert wurde, wurde dann auch in dieser Entscheidung auf die Zulässigkeit der Änderungen erkannt. Diese Situation ist aber zu unterscheiden von der Situation, bei welcher eine Liste auf ein einziges Element reduziert wird (sogenanntes «singling out», vgl. auch T98/09, E. 2.1). Das wird auch in der zitierten Entscheidung T783/09, die von der Beklagten angeführt wird, bei der Bezugnahme auf die T10/97 ausdrücklich hervorgehoben, dass eben eine vollständige Individualisierung nicht zu vergleichen ist mit einer Reduktion einer Seite 21 O2017_012 grösseren Gruppe auf eine kleinere Gruppe, die aber immer noch mehrere Elemente enthält. In der hier vorliegenden Situation wurde aber keine Gruppe auf eine kleinere Gruppe reduziert, sondern es wurde jeweils auf ein Element reduziert, d.h. es liegt vorliegend ein singling out auf ein einziges Element der jeweiligen Liste vor: namentlich wurde bei der Liste der Nebenwirkungen (inklusive Frage Reduktion oder vollständige Verhinderung) auf die Reduktion der Verstopfung und bei der Liste der Verhältnisse auf das spezifische einzelne Element 2:1 individualisiert. Damit ist die von der Beklagten angeführte T783/09 für die vorliegende Situation nicht einschlägig und spricht im Gegenteil sogar für die hier vertretene Auffassung, wenn man die Diskussion unter E. 6.4 der Entscheidung T783/09 betrachtet. Zudem ist zu guter Letzt darauf hinzuweisen, dass die T783/09 vor der Entscheidung G02/10 ergangen ist, und es ist fraglich, ob die T783/09 nach dieser Entscheidung der Grossen Beschwerdekammer in allen Punkten noch zu berücksichtigen ist (vgl. T2273/09, E. 2.1.12). Kosten- und Entschädigungsfolgen 35. Ausgangsgemäss wird die Beklagte kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 106 Abs. 1 ZPO). Die Gerichtsgebühr ist ausgehend von einem Streitwert von CHF 250'000 auf CHF 25'000 festzusetzen und der Beklagten aufzuerlegen. Die Gerichtsgebühr ist mit dem Kostenvorschuss der Klägerin zu verrechnen (Art. 111 Abs. 1 ZPO), die Beklagte hat der Klägerin die Kosten von CHF 25'000 zu erstatten (Art. 111 Abs. 2 ZPO). Die Parteientschädigung für die rechtsanwaltliche Vertretung ist ausgehend von diesem Streitwert ebenfalls auf CHF 25'000 festzusetzen (Art. 4 f. KR-PatGer). Für die patentanwaltliche Beratung macht die Klägerin EUR 38'422.26 geltend. Die Beklagte bestreitet die Kosten und macht geltend, sie seien viel zu hoch angesichts des Streitwerts, aber auch angesichts der Tatsache, dass die technischen Argumente in diesem Fall praktisch identisch seien wie im Parallelverfahren zur EP 825 (O2016_017) und praktisch identisch im Verfahren um die EP 824 im Fall O2017_013. Seite 22 O2017_012 Der Vergleich mit den Parallelverfahren ist nicht einschlägig, weil in diesen andere Patente zu beurteilen waren. Synergien sind in solchen Parallelverfahren aus parallelen Teilanmeldungen sind gering zu gewichten, da die Ansprüche nur geringe Unterschiede aufweisen, und eine umso sorgfältigere Arbeit und Gewichtung der Argumente erforderlich ist. Der von der Klägerin geltende gemachte Betrag sprengt aber den Tarifrahmen für die rechtsanwaltlichen Entschädigung (vgl. Art. 5 KRPatGer).14 Der Klägerin ist daher praxisgemäss unter dem Titel der notwendigen Auslagen ein reduzierter Betrag von CHF 30'000 zu erstatten (Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 lit. a KR-PatGer). Die Beklagte ist demnach zu verpflichten, der Klägerin eine Parteientschädigung von insgesamt CHF 55’000 zu bezahlen. Das Bundespatentgericht erkennt: 1. In Gutheissung der Klage wird festgestellt, dass der Schweizer Teil des europäischen Patents EP 2 425 821 B1 nichtig ist. 2. Die Gerichtsgebühr wird festgesetzt auf CHF 25’000. 3. Die Kosten werden der Beklagten auferlegt und mit dem Kostenvorschuss der Klägerin verrechnet. Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten im Umfang von CHF 25'000 zu erstatten. 4. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine Parteientschädigung von CHF 55’000 zu bezahlen. 5. Schriftliche Mitteilung an die Parteien unter Beilage des Verhandlungsprotokolls sowie nach Eintritt der Rechtskraft an das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum, je gegen Empfangsbestätigung. Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in Zivilsachen geführt 14 Vgl. BPatGer O2012_043, Urteil vom 10. Juni 2016, E. 5.5. Seite 23 O2017_012 werden (Art. 72 ff., 90 ff. und 100 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 [BGG, SR 173.110]). Die Frist ist gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben worden ist (Art. 48 Abs. 1 BGG). Die Rechtsschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind, soweit sie die beschwerdeführende Partei in Händen hat, beizulegen (vgl. Art. 42 BGG). St. Gallen, 4. Dezember 2019 Im Namen des Bundespatentgerichts Instruktionsrichter Erste Gerichtsschreiberin Dr. iur. Daniel M. Alder lic. iur. Susanne Anderhalden Versand: 06.12.2019 Seite 24